CD-Tipp der Woche

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Camille – Music Hole´. EMI

Wir ahnten schon, was für eine begnadete Künstlerin sie ist. Wir haben Sie wohlmöglich auch schon Live gesehen und waren hin und weg. Nun aber erreicht uns mit diesem (komplett englischsprachigen) neuen Album ein UFO allererster Güte. Frankreichs aussergewöhnlichste Vokalistin verblüfft uns einmal mehr! Was diese Frau alles mit ihrer Stimme anstellt, das kann einem glatt den Atem verschlagen.

Camille ist zweifellos Frankreichs größte Vokalkünstlerin. Die 29-jährige Pariserin verfügt über eine klare, starke Stimme, die jegliche Differenz zwischen E- und U-Musik aufzuheben scheint. Dazu haucht und jauchzt sie, gurrt, schnalzt, säuselt und trillert. Ihre Stimme ist das pralle Leben und sie erzeugt die kuriosesten Klänge, die unsereins bass staunen lassen, zu was Stimmbänder, Kehlkopf und Rachenraum imstande sind. Dabei legt sie sich in ihren Songs mit denkbar viel Gefühl ins Zeug. So reicht die Palette ihrer Wandlungsfähigkeit von einer jenseitig verlockenden Sirene bis zur wütenden urbanen Rapperin. Ihre Texte zeugen zudem von ausgeprägter Liebe zur Sprache und sind nicht selten von beißender Ironie und politischer Brisanz. Ein französisches Popwunder mit denkbar vielen Facetten.

Mit ihrem letzten Album, dem mit Preisen überhäuften Le Fil, ist Camille vor zwei Jahren der kommerzielle Durchbruch gelungen. Über 500.000 verkaufte Exemplare belegen, dass sie mit ihrem zweiten Soloalbum den Nerv des Publikums getroffen hatte. Ta douleur hieß trefflich der große Hit dieses Albums. Jetzt überrascht Camille mit Music Hole, ihrem ersten vorwiegend englischsprachigen Album und ihr künstlerisch radikalstes und wohl auch innovativstes. Bis auf ein paar übers Album verteilte Pianopassagen hat Camille bei den Aufnahmen auf jegliches herkömmliche Instrument verzichtet. Stattdessen hat sie sich ein paar Koryphäen ins Studio geholt, die für einen wahren Budenzauber an Geräuschen und Rhythmen sorgen. Die brasilianischen Body-Percussionisten von den Barbatuques gehören ebenso dazu wie Sly Johnson von der Saïan Supa Crew, Vincent Milner, ein Soundtrack-Spezialist für Geräuscheffekte, und James Cullum als Piano-Percussionist.

Im Zentrum der elf Songs steht die Stimme von Camille, die ein ums andere Mal durch Mehrspuraufnahmen verstärkt wird. Ich habe versucht, das Geschichtenerzählen und das Chanson-Gefühl von Musicals mit etwas Rituellem zu kombinieren: Körperperkussion, minimalistische Trance, tiefer Bass und Kehlkopfgesang, erklärt sie. Nur selten sind dabei gängige Songstrukturen auszumachen, am ehesten noch in der eindringlich schönen Ballade Home Is Where It Hurts. Der Opener Gospel With No Lord schwankt zwischen Doo-Wop-Nostalgie und postmodernem Pop. Zu einem furiosen Funk und R'n'B-Track schwingt sich Money Note auf, in das sich Camille geradezu manisch hineinsteigert und sich beiläufig mit hochdotierten Kolleginnen wie Mariah Carey anlegt (I want to beat Mariah). Ein Wordy Rappinghood fürs 21. Jahrhundert. The Monk wiederum beginnt als sakrales Stimmsolo und baut sich zu einem freischwebenden Gesangskanon auf, der durchaus Erinnerungen an Laurie Anderson weckt. Canards Sauvages weist mit seinen vertrackten Gesangsätzen unverkennbar Bezüge zu afrikanischer Stammesmusik auf. Und ein ganzes Arsenal an Tiergeräuschen beschwören Camille und ihre Gäste in Cats & Dogs herauf. Dabei liegt gerade über diesem die nostalgische Patina knarziger Chansons und Brechtscher Theatralik.

Ganz gleich, ob es so barock klingt wie Katie's Tea, eine aberwitzige Ode an die britische Institution des Fünf-Uhr-Tees, so arabesk wie Winter Child, wo ein heißer Wüstenwind eine Oase von Song zu durchdringen scheint, oder ihr im finalen Sanges Sweet eine Reverenz an die Transparenz und Seelentiefe einer Joni Mitchell gelingt, Music Hole ist ein ganz besonderes musikalisches Abenteuer. Camille als Gratwanderin zwischen neuen Ausdrucksformen. Eine Pop-Avantgaristin par excellence. Dass man Camille schon als Frankreichs Antwort auf Björk bezeichnet hat, dass sie auch gerne mit Kate Bush verglichen wird, all das sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Camille wahrlich überhaupt keinen Vergleich scheuen braucht und schlichtweg einzigartig ist. Ein Blick zurück auf ihre phänomenale Karriere. Camille Dalmais wird 1978 in Paris geboren und wächst zweisprachig auf, da ihre Mutter Englischlehrerin ist. Als Teenager widmet sie sich dem Ballett und entwickelt großes Interesse für brasilianischen Bossa Nova und amerikanische Musicals. Ihren ersten eigenen Song, Un homme déserté, singt sie mit 16 auf einer Hochzeit. Schon damals ist es ihr inniger Wunsch, entweder Sängerin, Tänzerin oder Schauspielerin zu werden. Nach einem Abschluss in Kunst am Pariser Lyzeum Henri VI besucht die begabte Studentin zunächst das prestigeträchtige Normale-Sup Saint-Cloud und im Anschluss die Elite-Hochschule Sciences-Po, wo ihre Abschlussarbeit jene Songaufnahmen bilden, aus denen später ihr Debütalbum hervorgeht. Ihre damalige musikalische Ausrichtung kombiniert Einflüsse von 70er Soul, Folk der 60er, klassischem Chanson samt einem ausgeprägten Faible für Sprache.

Das Jahr 2000. Camille ist jetzt Anfang zwanzig, nimmt nach wie vor Gesangsunterricht und probiert neue Songs in diversen Pariser Jazzclubs aus. Im Jahr 2001 bekommt sie eine kleine Rolle in der Vampir-Komödie Love Bites und zudem – was sie als Sängerin und Songwriterin voranbringt – einen eigenen Song (La vie la nuit) auf dem Soundtrack. Ein paar minimalistische Demo-Aufnahmen bringen ihr noch im selben Jahr einen Vertrag mit dem Virgin-Label Source ein, auf dem 2002 ihr Debütalbum La sac de filles erscheint. Das schlicht gehaltene Erstlingswerk erinnert bewusst an ein altes Folkalbum und kommt auf stattliche 30.000 verkaufte Exemplare. Was sie alles kann, beweist sie als Songwriterin und Gastsängerin auf zahlreichen Kollaborationen, die dem Album folgen. So ist sie auf Werken von Jean-Louis Murat, Gérard Manset, Scratch Massive und Etienne de Crécy (Super Discount 2) zu hören. Die stärkste Publikumsresonanz außerhalb Frankreichs erzielt Camille mit ihrer Teilnahme bei dem Projekt Nouvelle Vague.

Federführend bei Nouvelle Vague sind Marc Collin und Olivier Libaux, die für ihre Bossa-Nova-Versionen von Punk- und New-Wave-Klassikern auch Camille als prominente Gastsängerin gewinnen können. Camille singt auf dem ersten Nouvelle-Vague-Album aus dem Jahr 2004 Coverversionen von Clash, Dead Kennedys, Tuxedomoon und XTC. Anschließend geht sie mit der Band auf Europatournee. Dann konzentriert sie sich wieder auf die eigene Karriere. Le Fil, ihr zweites Album, wie Music Hole co-produziert von MaJiKer (aka Matthew Kerr), markiert 2005 den Aufbruch in neue künstlerische Gefilde. Getragen von der Energie und Leidenschaft ihrer Stimme, inspiriert von afrikanischer und amerikanischer Musik, avancieren die eigenwilligen Chansons von Le Fil zum Bestseller. Die Zeit schreibt: Es ist eine kindliche Anarchie, die auf ihrem Album Freudenfeste feiert, voller Sprachspiel und Witz in den Texten, klar und kraftvoll in den Akzenten. In Frankreich wird Camille 2005 mit dem Autorenpreis Prix Constantin und 2006 mit den begehrten Victoires de la Musique als bester Live-Act und für das beste neue Album ausgezeichnet. Ein BBC-3-Award unterstreicht ihre Stellung auf internationalem Parkett.

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