An das Spiel, welches ihrer Karriere den entscheidenden Stups gab, erinnert sich Jonas Konrad noch genau: In der Qualifikation zur männlichen Jugendbundesliga trafen im Sommer 2015 der TuS Ferndorf und die HSG Schwanewede/Neuenkirchen aufeinander. „Es war super heiß in der Halle und wir waren unheimlich aufgeregt“, erzählt er mit einem Grinsen. Das junge Schiedsrichter-Team Cesnik/Konrad war von seinem Landesverband für die Jugendbundesliga gemeldet worden – und nun stand die Bewährungsprobe an.
„Wir saßen in der Kabine und dachten: Oh Gott, da kommt jetzt jemand vom Deutschen Handballbund“, schmunzelt Konrad. Der ehemalige Bundesliga-Schiedsrichter Nils Szuka, heute verantwortlich für die Organisation im deutschen Schiedsrichterwesen, beobachtete die Leistung genau. „Das Spiel ging hin und her, wir mussten unfassbar viele Entscheidungen treffen.“ In den Schlusssekunden zückten sie, passend zu dem intensiven Match, auch noch eine direkte rote Karte. Beim Formulieren des notwendigen Berichts half Szuka, „wir hatten das ja noch nie gemacht“.
Die größte Überraschung für das junge Duo folgte jedoch im anschließenden Gespräch. „Er hat mit uns eigentlich gar nicht über das Regelwerk gesprochen, sondern nur über unser Auftreten, die Mimik und die Gestik. Es ging ihm darum, wie wir unsere Entscheidungen verkaufen – nicht darum, ob alle richtig sind. In diesem Gespräch haben wir gemerkt, dass das Pfeifen im Deutschen Handballbund eine komplette andere Welt ist.“
Diese auf den ersten Blick so ungewohnte Welt war jedoch das erklärte Ziel von Konrad und seinem Gespannpartner Marvin Cesnik. Als Jugendspieler wurden die beiden von ihrem Heimatverein zum Schiedsrichter-Lehrgang geschickt, um die Strafzahlungen wegen fehlender Schiedsrichter zu verringern. Konrad, zwei Jahre älter als Cesnik, pfiffen zunächst jeweils mit einem anderen Gespannpartner, bevor sie zusammenfanden.
„Es hat bei uns gematcht“, sagt Konrad heute. „Wir waren beide ein bisschen ambitionierter und hatten die gleichen Ziele.“ Nur von seiner Playlist – mit über 100 Songs von Bushido bis zu Apache 207 – für die Anfahrten zur Halle musste Konrad seinen Gespannpartner überzeugen. „Deutschrap traut mir niemand zu“, grinst er, „Ich glaube, die meisten erwarten bei mir mehr Mainstream, mit langweiligen Charts.“
Der unterschiedliche Musikgeschmack verblasste angesichts der Erfolge jedoch schnell: Über die Landesliga und die Verbandsliga arbeiteten sich Cesnik/Konrad ab 2011 nach oben, empfahlen sich zuerst für die Oberliga und dann – über das eingangs geschilderte Spiel – vier Jahre später für die Jugendbundesliga und damit für den Deutschen Handballbund. „Während unserer Zeit im Landesverband hatten wir mit Carsten Thiele und Daniel Köpplin zwei Schiedsrichter-Warte, die uns motiviert und eng begleitet haben“, bedankt sich Konrad.
Dennoch war es ein mitunter harter Weg: Eins ihrer ersten Landesliga-Spiele pfiffen Cesnik/Konrad beim Heimatverein der jetzigen Elitekader-Schiedsrichter Ramesh und Suresh Thiyagarajah. „Einer von ihnen guckte sich das Spiel zufällig von der Tribüne und sagte anschließend: ‚Boah, das war schlecht‘“, erinnert sich Konrad. „Das hat mich total angespornt, denn ich wollte beweisen, dass wir es besser können.“
Heute kann er über die Anekdote schmunzeln – auch, weil das Duo aus Gummersbach sich in der Jugendbundesliga bewährte und 2018 aus dem Perspektiv- in den Nachwuchskader des Deutschen Handballbundes aufstieg. In ihrer Aufstiegssaison erhielten Cesnik/Konrad bereits das erste Spiel in der 2. Bundesliga der Frauen. Es war eine Ehre; in der Regel pfeifen Perspektivkader-Teams diese Liga noch nicht. In ihrer Nervosität traten sie die Anreise viel zu früh an – und saßen in Waiblingen zwei Stunden im Auto auf dem Parkplatz, bevor die Halle überhaupt aufgeschlossen wurde.
In dieser Zeit bekam das aufstrebende Duo auch einen ersten Eindruck, wie es ganz oben zugeht: Cesnik/Konrad durften ihr Paten-Gespann bei einem Einsatz in der 1. Bundesliga begleiten. Peter Behrens und Marc Fasthoff, wenige Monate zuvor als ‚Schiedsrichter des Jahres‘ ausgezeichnet, nahmen die jungen Kollegen mit nach Magdeburg. Wie sehr Konrad das Erlebnis beeindruckte, ist ihm bis heute anzumerken.
„Wir standen auf einmal in dieser namhaften Halle im Gang hinter dem Kampfgericht und haben unser eigenes Wort nicht verstanden“, erinnert er sich. „So nah an so einem großen Spiel dran zu sein, war ein großartiges Erlebnis.“ Als Delegierter am Tisch bei diesem Spiel: Nils Szuka, der Cesnik/Konrad damals in Ferndorf gesichtet hatte. Manchmal ist die (Schiedsrichter-)Welt klein.
Zur Überraschung aller Zuschauer gewann Außenseiter Frisch auf Göppingen das Spiel am Ende gegen den favorisierten SC Magdeburg. „Es war das wahrscheinlich lauteste und schwerste Spiel, das ich in meinem Leben gesehen habe“, sagt Konrad. „Bennet Wiegert (der Trainer des SC Magdeburg, Anm. d. Red) war am Lamentieren, von den Tribünen peitschten die Fans ihren Club an und ich habe mich gefragt, wie man mit so viel Druck umgeht. Ich glaube, ich hatte draußen mehr Stress als die beiden auf dem Feld. Peter und Marc waren auf dem Rückweg völlig entspannt, ich war hingegen voller Adrenalin.“
Mit diesem Spiel verfestigte sich ein Wunsch, den Konrad bis heute hegt: Einmal in einer der ‚großen‘ drei Hallen Deutschland zum Einsatz zu kommen. „Es ist mein persönlicher Traum, in Magdeburg, Kiel oder Flensburg zu pfeifen“, verrät er. „Ich bin seit meiner Kindheit großer Handballfan und habe die Spiele immer im Fernsehen gesehen – und will einmal selbst in einer dieser Hallen auf der Platte stehen.“
Bislang sind die beiden Gummersbacher auf einem guten Weg. Nach zwei Jahren im Nachwuchskader gelang dem Duo 2020 der Aufstieg in den Bundesligakader. Kurz darauf folgte der erste Einsatz in der 1. Frauen-Bundesliga, TSG Ketsch gegen TuS Metzingen. „Das war ein Meilenstein für uns“, betont Konrad. „Wir haben uns nach dem Spiel gesagt: Jetzt kann es uns keiner mehr nehmen, dass wir in der höchsten Spielklasse Deutschlands gepfiffen haben!“
Ebenso steil wie die Schiedsrichter-Karriere verlief auch die berufliche Laufbahn von Konrad. Im Alter von 30 Jahren ist der studierte Wirtschaftsingenieur Geschäftsführer des zur Verlagsgruppe Bastei Lübbe gehörenden Buchverlags Community Editions, der Bücher von Social-Media-Stars wie Sänger Pietro Lombardi, YouTuber Paluten oder Influencerin Pamela Reif auf den Markt bringt.
Dabei war der Schritt in die Medienbranche zunächst nicht der Plan von Konrad, der Social Media selbst bewusst nur als „stiller Beobachter“, wie er das nennt, nutzt („Wenn ich bei einem gemeinsamen Mittagessen spüre, wie viel Pietro Lombardi von seinem Privatleben aufgeben muss, um dort zu sein, wo er ist, steht für mich fest, dass ich das Ganze gar nicht will.“). Über ein Praktikum bei einer Tochtergesellschaft von Bastei-Lübbe rutschte er in das Verlagswesen, baute im Rahmen seiner Bachelor-Arbeit ein Controlling-System auf und wechselte anschließend zu Lübbe, wo er in der Unternehmensentwicklung in der Stabsstelle des CEO arbeitete und berufsbegleitend einen Master of Business Administration absolvierte.
„Ich war für diesen Posten noch sehr jung; viele Kollegen um mich herum haben wir zunächst nicht getraut“, sagt er. Dass er sich am Ende behaupten konnte, davon ist er überzeugt, hat er dem Pfeifen zu verdanken: „Ich habe auf dem Spielfeld gelernt, unter Druck ruhig und sachlich zu bleiben“. 2021 wechselte er als kaufmännischer Leiter zu Community Editions, nach einem halben Jahr wurde Konrad in die Geschäftsführung berufen.
Dass er die verantwortungsvolle Position mit dem Pfeifen verbinden kann, hat er seinem Team im Verlag zu verdanken. „Sie tragen das alle mit“, bedankt er sich. Und Konrad trägt (natürlich) seinen Teil bei: Geht es am Freitag bereits mittags zum Pfeifen, fährt er am Samstagmorgen in den Verlag. Fehlt aufgrund der Rohstoffkrise das Papier, telefoniert er aus dem Auto heraus, um in Europa noch Papierkontingente zu kaufen. „Ich habe zwar im Verlag eher eine 50- als eine 40-Stunden-Woche, aber ich begreife das Pfeifen als Ausgleich“, erklärt er. „Es ist eine Auszeit für den Kopf, ich kann die beiden Welten trennen und vergesse die beruflichen Probleme, wenn ich vor der Halle aus dem Auto aussteige.“
Denn abseits von dem Mehrwert für seine berufliche Entwicklung macht Konrad das Pfeifen schlicht und einfach Spaß. „Ich habe mich auf dem Spielfeld immer wohlgefühlt“, sagt er. Und er genießt die Highlights wie die Premiere in einer neuen Liga – oder die K.O.-Spiele in der Deutschen Jugendmeisterschaft oder den Auf- und Abstiegsrunden der 3. Liga. „Wenn es um etwas geht, ist das immer etwas Besonderes“, betont er. „Ich freue mich daher immer unfassbar auf den Endspurt jeder Saison, weil dort tolle Spiele auf die Schiedsrichter warten.“
Er schwärmt nicht nur von den Nominierungen für die Finalturniere in der männlichen und weiblichen A- und B-Jugend, sondern auch von den Achtel- und Viertelfinalspielen. „Ich liebe es, wenn kleinere Vereine auf die Leistungszentren treffen, das sind Handball-Feste für die Gastgeber“, beschreibt er. „Ich wünsche jedem jungen Schiedsrichter-Team, dass es solche Spiele pfeifen darf.“
Inzwischen gibt Konrad seine Erfahrung bereits an die nächste Generation weiter und begleitet junge Gespanne hin und wieder bei ihren ersten Einsätzen in der Jugendbundesliga: „Das weiterzugeben, was mir selbst vor zwei, drei Jahren noch erklärt wurde, macht Spaß.“ Er selbst pfeift gemeinsam mit Cesnik inzwischen in seinem dritten Jahr im Bundesligakader. „Wir haben Zeit gebraucht, um uns in der 2. Bundesliga der Männer und 1. Bundesliga der Frauen zurechtzufinden“, sagt Konrad, „aber langsam haben wir das Gefühl, dass wir angekommen sind.“
Steckbrief Jonas Konrad
Alter: 30
Beruf: Geschäftsführer des Buchverlags Community Editions
Familienstand: ledig
Schiedsrichter seit: 2009
Gespannspartner: Marvin Cesnik
Kader: Bundesligakader
Karriere-Highlight: Unser erstes Spiel in der 2. Männer-Bundesliga 2018. Drei Nominierungen für die Final-Four-Turniere in der A- und B-Jugend von 2019 bis 2022. Das Debüt in der 1. Frauen-Bundesliga 2020.
Ein Traum, der in der Schiedsrichterkarriere (noch) offen ist: Marvin und ich wollen den letzten Schritt gehen – und es in die 1. Bundesliga der Männer schaffen.
Fotocredit: Marco Wolf, privat