Aprilia Tuono V4 1100 Factory – Der Über-Hammer

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Natürlich braucht kein Mensch 175 PS in einem Nakedbike. Wer aber die neue Aprilia Tuono V4 1100 einmal gefahren ist, könnte vielleicht doch das Gegenteil behaupten.

Aprilia lebt zu recht von ihrem Image, technisch hochinteressante Motorräder zu bauen, was sich allerdings im Markterfolg nicht so recht widerspiegelt. Zwei Jahre nachdem die Norditaliener die jüngste Version der Tuono mit Namen V4 1100 auf den Markt gebracht haben, folgt nun eine gründlich modifizierte Version. Und gleich vorweg gesagt: Uns ist beim Fahren nicht nur Hören und Sehen vergangen, wir haben auch unser inneres Gleichgewicht verloren.

Die Frage nach dem „Warum“ ist schnell aber nur unpräzise zu beantworten: Dieses Power-Nakedbike ist kein Hammer, es ist schlichtweg der Über-Hammer. Ein die Sinne raubender V4-Motor, ein für des Fahrers Ohren köstliche Stimulans, ein Präzisions-Fahrwerk erster Güte, eine Sahne-Bremsanlage mit allen aktuell nur vorstellbaren Finessen und ein Elektronik-Paket, das den Vergleich mit dem bajuwarischen Wettbewerber nicht scheuen muss, sind die Bestandteile dieses Werkzeugs. Dass es mindestens 17.000 Euro kostet und dazu ein bisschen mehr Treibstoff verbraucht als manch anderes (Zweirad-)Spielzeug, rückt bereits im Moment des Anlassens weit in den Hintergrund.

Seit 2002 gibt es unverkleidete Ableger der Aprilia Superbikes, die traditionell das Modellkürzel RSV tragen. Die Tuonos sind deren nackte Ableger, ultrastark und dank ihrer direkten Abstammung auch sehr leicht. Die motorseitige Beinahe-Identität hat Aprilia 2011 durch die Entwicklung eines speziellen Tuono-Triebwerks beendet; seither beträgt der Hubraum des Tuono-Aggregats 1.077 Kubikzentimeter, während die RSV-Brennräume weiterhin bei 999 Kubik liegen. Mehr Leistung vor allem im meistgenutzten mittleren Drehzahlbereich und möglichst gute Umgangsformen im Alltagsbetrieb waren die Ziele und die wurden auch erreicht. 2015 holte sich die Tuono V4 1100 den Titel des stärksten Nakedbikes der Welt, waren doch immerhin 175 Pferde vor den noch nicht mal 210 Kilogramm wiegenden Karren gespannt worden.

Diesmal ging’s nicht um noch mehr Power, sondern ums Bewahren der hervorragenden Leistungswerte unter den erschwerten Bedingungen der Euro-4-Norm. Die Entwickler im Veneto – dort, in Noale, befindet sich der Firmensitz – liefern ganze Arbeit: Weiterhin werden 129 kW/175 PS bei 11.000 U/min präsentiert, das maximale Drehmoment fällt mit 121 Nm bei 9.000 U/min auch nicht gerade mickrig aus. Eine diffizile Bearbeitung der Triebwerks-Innereien und eine leistungsfähigere Motor-Elektronik führen dazu, dass das Leistungsband sogar noch breiter wird als zuvor: Der Drehzahlbegrenzer greift bei der 2017er Version erst 500 Umdrehungen später an als zuvor, also bei 12.500 U/min. Wie bisher, sind drei Motor-Mappings angelegt, der Wechsel zwischen ihnen wurde vereinfacht. Unter der Euro-4-Kur hat der Auspuffsound nicht wirklich gelitten; das dem Endtopf entströmende Geräusch betört in jedem Drehzahlbereich die Sinne nach dem Motto: lieber den maximal möglichen Umweg wählen als die direkte Strecke zum Ziel.

Wer wie wir bei der Testfahrt in den südlichen Alpen gezwungen ist, bei Nässe unterwegs zu sein, freut sich über die sehr sensibel reagierende Traktionskontrolle, denn die Kombination von nasser Fahrbahn, einstelligen Temperaturen und den auf der Factory-Version montierten Pirelli Supercorsa ist unvorteilhaft. Trockene Straßen am Nachmittag bescheinigen dem Fahrwerk, dass Aprilia alles richtig gemacht hat: Superstabil umrundet die Tuono Biegungen aller Radien, kennt dazu so gut wie kein Aufstellmoment beim Bremsen in Kurven. Das relative Leichtgewicht von 209 Kilogramm erfordert nur einen leichten Druck am Lenker, schon geht die Tuono auf Kurvensuche. Ein uneingeschränkter Spaß. Die vom Superbike RSV4 übernommene NiX-Gabel des renommierten Zulieferers Öhlins, die in der Factory-Version zum Einsatz kommt, macht ihre Sache exzellent und trägt zudem mit einer Gewichtsersparnis von 850 Gramm dazu bei, dass die Tuono schlank und rank bleibt.

Dank des enormen Leistungspotenzials des V4 schrumpfen die auf Gebirgsstraßen vorhandenen Geraden extrem, sodass die Bremsanlage bei engagierter Fahrt zeigen kann, was sie drauf hat: Die radial montierten Monoblock-Vierkolbenzangen in Verbindung 33-cm-Scheiben mit feinsten Belägen und Radialpumpe sind von höchster Wirksam- und bester Dosierbarkeit. Selbst für hartes Verzögern genügt in der Praxis ein Finger. Überzeugend ist die Transparenz der Bremse; sie entspricht derjenigen des Fahrwerks, arbeitet wie dieses auf höchstem Niveau.

Viel investiert hat Aprilia auch in die Aufrüstung der Elektronik, denn selbst nach nur zwei Produktionsjahren gibt es auf diesem Bereich Verbesserungsmöglichkeiten. Diese sind bei der neuen Tuono V4 unübersehbar: Das neue TFT-Display ist ein echter Fortschritt und nunmehr dank klarer Struktur und hohen Kontrasten gut ablesbar. Ob alle Informationen – wir kamen auf 13 grafische oder digitale Angaben – wirklich sein müssen, sei dahingestellt. Aber möglicherweise gibt es ja Piloten, die sich selbst bei 48 Grad Schräglage noch ein Auge für die Schräglagenanzeige haben.

Im Hintergrund wurde das gesamte Regelungssystem aufgerüstet: APRC heißt es, Aprilia Performance Ride Control. Ganz vorne rangiert das neue Race-ABS mit Kurvenfunktion. Natürlich ist es weiterhin deaktivierbar, zudem auf Stufe 1 aufs Vorderrad beschränkbar. Für den Verkehr auf öffentlichen Straßen bedeutsamer sind die Stufen 2 und 3, bei denen jeweils Vorder- und Hinterrad beaufsichtigt werden und die Schräglagenerkennung aktiviert ist, aber unterschiedliche Eingriffsschwellen definiert sind. Die Traktionskontrolle ist achtfach einstellbar, die Wheelie- und die Launchkontrolle je dreifach. Zudem arbeitet der Quickshifter nunmehr in beide Richtungen.

Wie schon angedeutet: Fahren mit der neuen Tuono hat ein hohes Suchtpotenzial: Motor, Fahrwerk, Sound und Elektronik in Verbindung mit einem vorzüglichen Handling sind die Faktoren für grandiosen Fahrspaß. Der kann nicht billig sein und ist es auch nicht, wobei der Kaufpreis – die RR kostet rund 17.000 Euro, die Factory rund 18.500 Euro – nur die Erstinvestition ist, denn auch der Unterhalt ist nicht billig. Aber sei’s drum: Wer es sich leisten kann, erhält mit der Aprilia Tuono V4 1100 ein rundum faszinierendes Hyper-Nakedbike. Dass der Fahrer auf nasser Straße völlig „eingesaut“ wird und die Gefahr von gelegentlichen Tempoverstößen durchaus realistisch ist, muss man allerdings stets mit einkalkulieren.

Technische Daten Aprilia Tuono V4 1100 RR [Factory]

Motor: Flüssigkeitsgekühlter Vierzylinder-V-Motor (65°), 1.077 ccm Hubraum, DOHC, 4 Ventile pro Zylinder, 129 kW/175 PS bei 11.000 U/min, 121 Nm bei 9.000 U/min; Einspritzung, 6 Gänge, Kette
Fahrwerk: Aluminium-Brückenrahmen; vorne 4,3 cm-Sachs-USD-Telegabel [Öhlins-Gabel NiX], voll einstellbar, 12 cm Federweg; hinten Aluminium-Zweiarmschwinge, Sachs-Zentralfederbein [Öhlins-Zentralfederbein], voll einstellbar, 13 cm Federweg; Leichtmetallgussfelgen; Reifen Pirelli Diablo Rosso III [Diablo Supercorsa] 120/70 ZR17 (vorne) und 190/55 ZR 17 [200 ZR 17] (hinten), 33 cm Doppelscheibenbremse vorne, 22 cm Einscheibenbremse hinten
Assistenzsysteme: ABS (mit Kurvenfunktion, 3-fach einstellbar u. abschaltbar), 3 Motor-Mappings, 8-fach einstellbare Traktionskontrolle, 3-fach einstellbare Wheelie-Kontrolle, 3-fach einstellbare Launch-Kontrolle, Geschwindigkeitsregelanlage, Antihoppingkupplung, Quickshifter
Maße und Gewichte: Radstand 1,45 m, Sitzhöhe 82,5 cm, Gewicht fahrfertig 209 kg; Tankinhalt 18 l
Fahrleistungen: 0-100 km/h ca. 2,9 s, Höchstgeschwindigkeit über 200 km/h. Normverbrauch lt. EU4 7,8 l/100 km; Testverbrauch 7,6 l/100 km
Preis: ab 16.990 Euro

Text: Ulf Böhringer/SP-X
Fotos: Aprilia

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