Meine Geschichte – Thomas Kern: Angekommen

Ob Titelkampf oder Kellerduell in der LIQUI MOLY HBL, ob Spitzenspiel oder Abstiegsthriller in der Handball Bundesliga Frauen, ob ein Nachbarschaftsderby in der 3. Liga oder die Finalrunde der Deutschen Jugend-Meisterschaft: Seit 2020 können die Schiedsrichter*innen des Deutschen Handballbundes (DHB) bei ihren Einsätzen auf die Unterstützung der KÜS bauen. Jede*r von ihnen investiert viel Zeit und Herzblut in die große Leidenschaft. Doch warum sind sie Schiedsrichter*in geworden? Welchen Weg sind sie gegangen? Und was hat ihre Karriere geprägt? Einer der knapp 300 Unparteiischen des Deutschen Handballbundes ist Thomas Kern, der gemeinsam mit Thorsten Kuschel dem Elitekader angehört. Das hier ist seine Geschichte.

Den 04. September 2018 werden Thomas Kern und Thorsten Kuschel wohl nie vergessen: An diesem Dienstag leiteten die beiden Schiedsrichter aus dem Pfälzer Handball-Verband ihr erstes Spiel in der 1. Bundesliga der Männer. SC DHfK Leipzig gegen die SG BBM Bietigheim, 3.503 Zuschauer und Trainerlegende Michael Biegler an der Seitenlinie der Hausherren. „Thorsten bestreitet es bis heute, aber er war nervös bis zum Gehtnichtmehr“, erinnert sich Kern mit einem Schmunzeln. „Es war für uns aber auch ein total besonderes Spiel.“

Um zu ermessen, was Kern und seinem Gespannpartner diese Ansetzung bedeuten musste, reicht ein Blick auf die Zahlen: Zwölf Jahre im Bundesligakader hatte das Duo zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Buckel, über 300 Spiele für den Deutschen Handballbund in seiner Vita. Zum Vergleich: In der gerade abgelaufenen Saison gab ein junges Gespann nach drei Jahren im Bundesligakader und weniger als 90 DHB-Einsätzen sein Debüt in der deutschen Beletage. „Wir waren damals nicht die typischen Aufsteiger“, weiß auch Kern. „In der Regel steigst du eben nicht mit Mitte 30 auf, sondern schnupperst deutlich früher das erste Mal Erstligaluft bei den Männern.“

Dass sie diesen Schritt nach oben nach zwölf Jahren doch noch gehen konnten, überraschte wahrscheinlich niemandem mehr als Kern und Kuschel selbst. Das Gespann war in der 2. Bundesliga der Männer und der 1. und 2. Frauen-Bundesliga etabliert; ihr Ansetzer sagte ihnen: „Ich kann euch überall hinschicken.“ Das ist ein Standing, das man sich auf dieser Ebene erst einmal erarbeiten muss. „Wir wurden geschätzt, wussten genau, was wir können und mussten nicht um den Verbleib im Kader zittern“, beschreibt Kern. „Wir hatten das Gefühl, angekommen zu sein.“

Vielleicht war es genau diese Einstellung, diese neue Ruhe, die am Ende den Ausschlag gab. Denn früher, das gesteht Kern offen ein, war das anders. „Ich war sehr verbissen, wollte unbedingt hoch und so oft wie möglich in den großen Hallen pfeifen“, erinnert er sich. „Wenn ich auf dem Spielfeld etwas gesehen habe, habe ich es sofort unterbunden; da war ich ganz strikt.“ Das kam nicht überall an – in einem Internetforum musste Kern über sich selbst die Beschreibung ‚der gemeine schwarze Zwerg’ lesen. Damals traf es ihn, heute kann er darüber schmunzeln. „Es war damals immer ein Tick zu viel, ein Tick zu verbissen“, sagt er selbstkritisch. „Mir hat die Lockerheit gefehlt.“

Dennoch waren Kern/Kuschel zunächst durchaus auf der Überholspur unterwegs. Zwei Jahre, nachdem Kern 1999 seinen Schiedsrichterschein gemacht hatte, kreuzten sich die Wege der beiden auf einem Jugendtrainer-Lehrgang. „Thorsten erzählte damals, dass er für ein Spiel der weiblichen B-Jugend in Dudenhofen angesetzt sei, was er aber abgeben wolle – und ich sagte: Nein, das Spiel habe ich – und ich will es abgeben“, grinst Kern. „Es ging hin und her, bis uns aufgefallen ist, dass die erste und zweite B-Jugend des Vereins in der derselben Halle nacheinander spielen.“

Statt ihre Ansetzung jeweils abzugeben, entschieden sich der 16-jährige Kuschel und der 17-jährige Kern kurzerhand, die Partien einfach gemeinsam zu pfeifen – es war der Beginn eines (zunächst) steilen Aufstiegs. 2002 erhielt das neue Gespann bereits eine Einladung zum Länderpokal, der damals in der Pfalz ausgetragen wurde und überzeugte auf Anhieb. Es folgten die ersten Fördermaßnahmen, die Aufnahme ins Jung-Schiedsrichterprojekt des Deutschen Handballbundes und der Aufstieg in die Regionalliga des Südwestdeutschen Handballverbandes.

Der Einsatz blieb nicht unbemerkt: Der ehemalige Olympia-Schiedsrichter Hans Thomas, langjähriger Schiedsrichter-Lehrwart des Deutschen Handballbundes, nahm das talentierte Duo aus seinem Heimatverband unter seine Fittiche. So folgte 2006 – mit gerade einmal Anfang 20 – der Aufstieg in den Bundesligakader. „Wenn man in eine neue Liga kommt, muss man immer kämpfen“, beschreibt Kern. „Man muss sich neu beweisen, wird von Spielern und Trainern ausgetestet. Erst, als wir nach und nach zunehmend akzeptiert wurden, habe ich die Verbissenheit ablegen können und gelernt, dass man gewisse Situationen auch mal mit einem lockeren Spruch entschärfen kann.“

Ein wichtiger Faktor war jedoch nicht nur die zunehmende Erfahrung auf dem Spielfeld, sondern auch die Weichenstellungen im Privat- und Berufsleben. Drei Jahre nach dem Ende seines dualen Studiums zum Diplom-Ingenieur Mechatronik trat Kern 2007 seinen Job bei Siemens an, bis heute ist er seinem Arbeitgeber – auf immer wieder neuen Positionen – treu. Im gleichen Jahr lernte Kern auch seine heutige Frau kennen. „Die Stabilität im Privatleben und im Job“, sagt er heute, „haben mir geholfen, auf dem Spielfeld ruhiger zu werden.“

Dass Kern und Kuschel am Ende zwölf Jahre auf den nächsten Schritt warten mussten, war anfangs nicht abzusehen – als Makel sehen sie das jedoch nicht. „Ich habe einfach unheimlich viel Freude am Pfeifen gehabt“, beschreibt Kern. „Natürlich haben wir uns immer gedacht, dass es noch schön wäre, den Schritt in die 1. Bundesliga der Männer zu gehen, aber wir haben auch jede Saison im Bundesligakader genossen. Wir haben uns wohl gefühlt und unsere Erfahrung hat uns Sicherheit gegeben.“

Parallel zur Schiedsrichterei entwickelte sich Kern beruflich stetig weiter, er wurde Führungskraft und Projektleiter, belegte Fortbildungen. „Aus einem Kurs zum Lean Management, in dem es um Prozessverbesserung geht, konnte ich viel zum Thema Führung und Menschenbild mitnehmen“, sagt er. „Einer meiner Glaubenssätze ist: ‚Hart zum Prozess, nett zum Menschen.‘ Prozesse zu optimieren, mit Menschen zu arbeiten, die Wertschöpfung zu erleben – am Ende eines Tages zu sehen, was geschafft worden ist – das bereitet mir Freude.“

Seine beruflichen Erfahrungen prägen auch den Schiedsrichter Thomas Kern. „Unser Coaching-Chef Thorsten Zacharias hat mir mal gesagt: ‚Du lachst auf dem Feld zu viel, du bist zu freundlich – du kannst aber nicht alles weglächeln’“, erinnert sich Kern. „Aber das bin ich nun einmal, ich kann mich nicht verstellen. Ich bin, das habe ich aus der Arbeit mitgenommen, der ausgleichende Charakter.“

Diese Lebenserfahrung, das Wissen um die eigenen Stärken und Schwächen, half Kern und Kuschel nach ihrem Aufstieg in den Eliteanschlusskader, sich in der 1. Bundesliga zu etablieren. „Unsere Erfahrung und die dadurch entstandene Gelassenheit haben es uns einfacher gemacht, oben anzukommen“, ist Kern überzeugt. „Einige Spieler, Trainer und Vereine kannten uns auch schon und wir haben uns sehr gefreut, die Menschen wiederzusehen.“

2020 stieg das Duo in den Elitekader auf und darf seitdem den Adler des Deutschen Handballbundes auf der Brust tragen. „Es war der logische Schritt, den wir unbedingt auch noch machen wollten“, sagt Kern. Ein besonderes Highlight: Die erste Ansetzung in der altehrwürdigen Ostseehalle, der heutigen Wunderino-Arena. „Das war das Größte für uns“, sagt Kern. „Alfred Gislason war damals noch Trainer und hat uns sehr freundlich, sehr offen begrüßt. Das war cool.“

Einen großen Wunsch an der Pfeife haben Kern und Kuschel jedoch immer noch: Die Nominierung für ein Finalturnier um den DHB-Pokal der Männer oder Frauen. „So ein Großevent, wo es um einen Titel geht, würden wir gerne noch mitnehmen“, sagt Kern. „Aufgrund der Kulisse wäre es ein besonderer Traum, das Final Four der Männer miterleben zu dürfen, aber auch über eine Nominierung für die Frauen würden wir uns unheimlich freuen.“

Denn wie es ist, so ein Finalturnier zu erleben, weiß Kern nicht nur von seinen Kollegen an der Pfeife. Seine Frau Anke sitzt gemeinsam mit seiner Schwägerin am Kampfgericht, als Zeitnehmerin und Sekretärin sind die beiden Schwestern nicht nur national, sondern auch international im Einsatz. Nach dem Einsatz beim Final Four der EHF European League 2021 in Mannheim folgte in diesem Jahr die Nominierung für das Finalturnier der EHF Champions League in Köln.

„Der Handball spielt bei uns in der Familie daher natürlich eine große Rolle“, sagt Kern. Auch gemeinsam war das Ehepaar schon unterwegs; während er auf dem Feld stand, saß seine Frau am Tisch: „Das war schon witzig.“ Auch die beiden Kinder spielen Handball. „Das war wohl vorgezeichnet“, grinst er. „Ich freue mich aber natürlich sehr, dass sie Spaß daran haben und bin ein begeisterter Zuschauer.“ Und wenn im Heimatverein ein Miniturnier ansteht, hilft Kern selbstverständlich mit – und stellt sich als Schiedsrichter auf das Feld.

Steckbrief Thomas Kern

Alter: 39
Beruf: Projektleiter

Familienstand: verheiratet, zwei Kinder
Schiedsrichterin seit: 1999
Gespannpartner: Thorsten Kuschel

Kader: Elitekader

Karriere-Highlight: Das erste Spiel in der 1. Bundesliga der Männer. Das erste Spiel in der Kieler Ostseehalle. Die Nominierung für das Final Four der weiblichen A-Jugend

Ein Traum, der in der Schiedsrichterkarriere (noch) offen ist: Eine Nominierung für ein Final Four um den DHB-Pokal

Fotocredit: Marco Wolf, privat

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