„Meine Geschichte“ – Tobias Tönnies startet Schiedsrichterkarriere mit roter Karte

Ob Titelkampf oder Kellerduell in der LIQUI MOLY HBL, ob Spitzenspiel oder Abstiegsthriller in der Handball Bundesliga Frauen, ob ein Nachbarschaftsderby in der 3. Liga oder die Finalrunde der Deutschen Jugend-Meisterschaft: Seit 2020 können die Schiedsrichter*innen des Deutschen Handballbundes (DHB) bei ihren Einsätzen auf die Unterstützung der KÜS bauen. Jede*r von ihnen investiert viel Zeit und Herzblut in die große Leidenschaft. Doch warum sind sie Schiedsrichter*in geworden? Welchen Weg sind sie gegangen? Und was hat ihre Karriere geprägt? Einer der knapp 300 Unparteiischen des Deutschen Handballbundes ist Tobias Tönnies, der gemeinsam mit Robert Schulze dem Elitekader angehört. Das hier ist seine Geschichte.

Die Schiedsrichterkarriere von Tobias Tönnies begann mit einer roten Karte. In Haldensleben, unweit seiner Heimatstadt Magdeburg, pfiff der damals 16-Jährige im Jahr 1999 sein erstes Spiel. Robert Schulze, sein Kindheitsfreund, hatte Tönnies zu dem Einsatz überredet; er sprang als Vertretung für den erkrankten Gespannpartner von Schulze ein.

Nachdem eine Spielerin im Gegenstoß frei vor dem Tor gefoult worden war, hielt Tönnies die Spielzeit an – und war erst einmal ratlos. „Ich habe in dem Moment quer über das Feld zu Robert geblickt“, erinnert Tönnies sich. „Er war zu dem Zeitpunkt schon ein Jahr Schiedsrichter und hatte daher mehr Erfahrung. Doch er signalisierte mir mit einem Schulterzucken nur: Mach, was du denkst.“ Daraufhin zückte Tönnies – in seinem ersten Spiel und ohne Schiedsrichterausbildung – die direkte rote Karte.

Es war ein denkwürdiges Debüt – und der Anfang einer eindrucksvollen Laufbahn. Tönnies, der doch eigentlich nur dieses eine Spiel aushelfen wollte, hatte Feuer gefangen und meldete sich bei nächster Gelegenheit für den Schiedsrichter-Lehrgang an. Sein Heimatverein, der TuS 1860 Magdeburg-Neustadt, hatte einen Unparteiischen mehr. „Es hat mir einfach Spaß gemacht“, begründet er schlicht.

Einen Gespannpartner musste Tönnies nicht suchen; ein anderer als Schulze kam nicht in Frage. „Es hat gepasst zwischen uns beiden“, sagt der heute 38-Jährige. Als Kinder waren die beiden Freunde Sitznachbarn in der Grundschule, nachmittags gingen sie gemeinsam zum Handballtraining. Die Trainerin war Schulzes Mutter, der Co-Trainer Tönnies‘ Vater; in der C-Jugend feierten sie die Landesmeisterschaft und die Norddeutsche Meisterschaft. Schulze war der Spielmacher, der zehn Zentimeter größere Tönnies spielte im linken Rückraum.

Trotz der Erfolge in der Jugend war dem Duo früh klar: Anders als ihr damaliger Mannschaftskollege Christoph Theuerkauf, der in der B-Jugend zum SC Magdeburg wechselte und später Nationalspieler wurde, würde es für die große Handballkarriere nicht reichen. „Als Sportler willst du es in deiner Sportart natürlich ganz nach oben schaffen“, sagt Tönnies. „Da wir als Spieler nicht für höhere Aufgaben bestimmt waren, bot sich der Weg des Schiedsrichters an.“

Denn bereits früh in ihrer Karriere wurde Tönnies und Schulze ein Talent an der Pfeife bescheinigt. „Verschiedene Mentoren haben uns geraten, die Schiedsrichterkarriere ernsthaft zu verfolgen“, erinnert sich Tönnies. „Wir wussten daher schnell, dass der Weg da ist – und es nur an uns liegt, ihn auch zu gehen.“ Die beiden Freunde befolgten also den Rat und hängten sich rein, die Schiedsrichterei nahm nach und nach einen immer größeren Stellenwert in ihrem Leben ein.

Der Einsatz zahlte sich aus: Gerade einmal drei Jahre nach ihrem ersten gemeinsamen Einsatz in Haldensleben wurde das junge Gespann vom Handball-Verband Sachsen-Anhalt für den Regionalliga-Kader gemeldet. „Das war der entscheidende Schritt“, betont Tönnies rückblickend. „Wir durften nicht mehr nur in unserem Verband pfeifen, sondern sind das erste Mal über die Grenzen von Sachsen-Anhalt hinaus gefahren, um ein Spiel zu leiten. Dieser Moment hat den Weg geebnet.“

In den folgenden Jahren ging der Aufstieg nahezu ungebremst weiter, nachdem sie für die Schiedsrichterei mit dem Handball spielen aufgehört hatten: Auf die Teilnahme am damaligen Jung-Schiedsrichterprojekt des Deutschen Handballbundes folgte 2004 der Aufstieg in den Nachwuchskader, 2006 gelang der Schritt in den B-Kader, im November 2007 pfiffen Schulze und Tönnies ihr erstes Spiel in der 1. Männer-Bundesliga: HSG Nordhorn-Lingen gegen HBW Balingen-Weilstetten. „Robert zieht mich bis heute damit auf, dass er – im Gegensatz zu mir – bei unserem ersten Erstliga-Einsatz noch 23 Jahre alt war“, schmunzelt Tönnies.

Parallel zu der steilen Karriere im Handball entwickelte sich auch die berufliche Laufbahn bestens. Nach dem Schlussabschluss entschied sich Tönnies für eine Ausbildung zum Immobilienkaufmann, an die er ein duales Studium anschloss. Das Interesse war familiär bedingt; sein Großvater war jahrelang im Vorstand einer Wohnungsgenossenschaft. „Es ist ein spannendes, vielfältiges Berufsfeld und ich wollte nichts anderes machen“, sagt Tönnies. Eine Prämisse war für ihn jedoch immer unumstößlich: Der Job musste mit der Schiedsrichterei vereinbar sein.

„Wenn mich ein Arbeitgeber vor die Wahl gestellt hätte, bin ich mir sicher, dass ich mich für das Pfeifen entschieden hätte“, unterstreicht Tönnies. „Viele Unternehmen sehen inzwischen jedoch, was ein Schiedsrichter für persönliche Qualitäten mitbringt: Führungsstärke, Stressresistenz und Entscheidungsfreudigkeit lernst du auf dem Spielfeld in hohem Maße. Das ist eine unglaubliche Chance für jeden Arbeitgeber.“ Auch Tönnies selbst hat das Pfeifen natürlich geformt: „Dass ich etwas aus der Emotion heraus entscheide, ist selten geworden – ich habe gelernt, Geduld zu haben und die Ruhe zu bewahren.“

Neben dem Pfeifen prägt Tönnies auch die enge Freundschaft zu Gespannpartner Schulze. Seine Geschichte lässt sich ohne Schulze nicht erzählen; das Leben der beiden Freunde ist eng verwoben, sie scherzen selbst gerne über ihre „lebenslange Ehe“. Die grundverschiedenen Charaktere ergänzen sich dabei optimal: Schulze ist eher der kommunikative Typ, der auf Menschen zugeht, Tönnies der ruhige Pol im Gespann. Den anderen mit all seinen Stärken und Schwächen zu akzeptieren: Das macht nicht nur ihre Freundschaft aus, sondern auch den gemeinsamen Erfolg. 

Denn die Erstliga-Premiere sollte nur ein Zwischenschritt auf ihrem Weg sein: Das internationale Parkett rief. 2012 leitete das Gespann Schulze/Tönnies sein erstes Spiel in der EHF Champions League, 2013 waren die Magdeburger erstmals bei einer Jugend-Weltmeisterschaft, 2014 folgte die Nominierung für die Frauen-Europameisterschaft.

Warum ausgerechnet ihnen der Sprung an die Spitze gelungen ist, kann Tönnies gar nicht genau benennen. „Es hat einfach alles gestimmt“, sagt er schließlich. Der richtige Gespannpartner, die richtigen Unterstützer zur richtigen Zeit, das richtige Umfeld: Vielleicht war es Schicksal, sicherlich auch ein bisschen Glück, auf jeden Fall harte Arbeit. „Wir haben aufgezeigt bekommen, dass es höher gehen kann; wir haben die Chance gesehen“, beschreibt Tönnies. „Deshalb haben wir uns Ziele gesetzt und alles dafür getan, um diese auch zu erreichen.“

Ihr größtes Ziel, das sie jahrelang antrieb, erreichten Schulze und Tönnies im vergangenen Jahr: Mit der Teilnahme an den Olympischen Spielen ging ein Lebenstraum in Erfüllung, es war die vorläufige Krönung ihrer Karriere. „All die Arbeit und alles, was wir investiert haben, zahlt sich jetzt aus“, strahlte Tönnies damals vor dem Abflug nach Tokio. Das Finale der Männer-Europameisterschaft im Januar 2022 war kurz darauf der nächste Höhepunkt.

Es sind jedoch nicht die 60 Minuten auf dem Spielfeld, welche die Schiedsrichterei für Tönnies ausmachen. „Wir haben so viele Menschen kennengelernt, durften die verschiedensten Ecken der Welt sehen und haben Einblicke in verschiedene Kulturen bekommen“, schwärmt er. „Viele Ereignisse, an die du Jahre später zurückdenkst, haben mit dem Sport nichts zu tun.“ Bei einem Einsatz in den Vereinigten Arabischen Emiraten fuhren Schulze und Tönnies gemeinsam mit ihren Schiedsrichter-Kollegen nachts durch die Wüste von Abu Dhabi in eine Disco in Dubai – und bei der Asienmeisterschaft in Südkorea probierte das Duo lebendigen Oktopus. Obwohl das eine Erfahrung sei, die „keiner Wiederholung bedarf“ (Tönnies), sind es Erinnerungen wie diese, die keiner von beiden je vergessen wird.

Trotz des steilen Aufstiegs und der großen Erfolge hat Tönnies, der gemeinsam mit Lebensgefährtin Mandy und dem gemeinsam Sohn in seiner Heimatstadt Magdeburg verwurzelt ist, bis heute die Bodenhaftung bewahrt. Über das Etikett ‚deutsche Top-Gespann‘ kann er nur belustigt die Augen verdrehen. „Natürlich freuen wir uns über jede Nominierung und sind stolz darauf, was wir erreicht haben, aber wir wollten nie etwas anderes als ein Teil des Sports sein“, sagt er. Eine Spur Besessenheit für die große Leidenschaft gehörte natürlich auch dazu: „Irgendwann haben wir alles auf das Pfeifen ausgerichtet und nicht mehr überlegt, was wir stattdessen machen könnten. Die Schiedsrichterei ist einfach zu meinem, zu unserem zweiten Leben geworden.“

Steckbrief Tobias Tönnies

Alter: 38
Beruf: Immobilienkaufmann
Familienstand: vergeben, ein Sohn
Schiedsrichter seit: 1999
Gespannpartner: Robert Schulze
Kader: Elitekader / EHF / IHF
Karriere-Highlight: Olympia 2020, EM-Finale 2022
Ein Traum, der in der Schiedsrichterkarriere (noch) offen ist: Einmal in Island pfeifen – und Olympische Spiele unter normalen Bedingungen erleben!

Fotocredit: Marco Wolf

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