Die aufgesetzte Fröhlichkeit, die die meist bunt kostümierten Menschen auf den knallig bunten Wagen mit viel Pappmaché zu Werbezwecken transportieren sollen, ist wochenlang eingeübte Staffage. Dahinter steckt eine straffe Organisation, denn das 120 Minuten später folgende Fahrerfeld darf in keiner Weise dadurch behindert, eingeschränkt oder gar blockiert werden. Für die Amaury Sports Organisation (A.S.O.), den Tour-Veranstalter, ist „la publicitaire“ jedoch ein in das Prämien-Gefüge integriertes Netzwerk. Jedem Sponsor, vor allem den fünf Hauptpartnern der Tour, aber auch den weniger lukrativen Begleitern, steht eine bestimmte Größe und Anzahl an Fahrzeugen mit festem Abstand zu.
Die als Werbefiguren verkleideten jungen Männer und Frauen werfen unablässig kleine Geschenke in das Publikum: Klatschhände mit dem Aufdruck des Konzerns, der dahinter steckt. Gummibärchen, Mützen mit Aufklebern, bunte Papierfähnchen, Süßigkeiten, Käseecken oder „saucisses“, kleine, fest verpackte Salami-Stücke. Anhalten geht nicht, die Karawane darf nicht ins Stocken geraten. Der Abstand zum Peloton muss stets gewahrt bleiben. Das heißt, dass Fahrzeuge schon einmal mit Schwung in den kleinen Dörfern am Straßenrand aus einer engen Kurve herausgetragen werden und dass Schlüsselanhänger, kleine Wasser- oder Limonadeflaschen schnell zu Wurfgeschossen mutieren. Beulen und Platzwunden inbegriffen.
Die überall sichtbaren Angehörigen der Polizei haben zwar ein Auge vor allem auf die jüngsten Zuschauer, die sich oft als kaum zu bremsende Souvenirjäger oder Geschenksammler entpuppen. Allem Ungemach aber kann man bei dieser Anzahl und der Geschwindigkeit der aufgeplusterten Autos nicht vorbeugen. Absperrungen an den besonders gefährdeten Stellen gibt es kaum. Jeder Neugierige am Straßenrand ist sein eigener Schutzengel. Unfälle sind demzufolge nicht auszuschließen. Zu leichten Karambolagen aber auch gefährlichen Situationen kann und wird es immer wieder kommen.
Tragisch wird es, wenn dabei – wie schon geschehen – Menschenleben zu beklagen sind. In den frühen Nuller Jahren des neuen Jahrhunderts (2000 und 2002) war das der Fall. 2002 lief auf der Etappe von Bazas nach Pau in den Pyrenäen ein siebenjähriger Junge in ein Fahrzeug der Werbekarawane, weil er auf der anderen Straßenseite seine Großmutter entdeckt hatte. Er starb kurz nach dem Eintreffen der Sanitäter, bevor er ins nächst gelegene Hospital geflogen werden sollte. Zwei Jahre zuvor war ein Kind, 12 Jahre alt, von einem Teilnehmer des Werbe-Feldzuges erfasst und tödlich verletzt worden.
Die Größe und die Teilnehmer an dieser rollenden Schlacht um die Absatzbilanz der zur Schau getragenen Produkte sind unterschiedlich. Als die Tour im Jahr 2002 in Luxemburg begann und das Peloton auf der ersten Etappe quer durch Rheinland-Pfalz und das nördliche Saarland nach Saarbrücken zog, flanierten dem Fahrerfeld 178 Fahrzeuge voran. So sagen es die Archive der A.S.O. 37 verschiedene Anbieter haben demnach seinerzeit mit insgesamt 480 Mitarbeitenden für ihre Produkte geworben. Der Wert der Werbegeschenke, die in drei Wochen unters Volk geworfen werden, geht in die Millionen.
Allen möglichen Gefahrenherden zum Trotz hat die „publicitaire“ in Frankreich eine große Fan-Gemeinde. Es gibt eine eigene Facebook-Gruppe, auf der sich Sammler und Jäger austauschen. Tipps, wann sich „Follower“ der Karawane am besten wo hinstellen, um noch ein zweites oder drittes Mal etwas zu ergattern, werden als geheime Verschlusssache gehandelt. Es gibt richtige „Karawanen-Süchtige“, denen die Tour als solche egal ist. Ihnen geht es darum, eine möglichst große Ansammlung aller verschiedenen Werbegeschenke eines jeden Jahres zu horten. So wie andere Leute das mit Briefmarken, Bierdeckeln und sonstigem tun.
Die Tour, und mit ihr alle dazu gehörenden Besonderheiten, für all das gilt: Alles außer gewöhnlich.
Fotos: Jürgen C. Braun