Ein VW Golf aus dem Jahr 1996 misst 4,02 Meter und wiegt 960 Kilo, heute dagegen stehen 4,28 Meter und mindestens 1.255 Kilo im Fahrzeugschein. Der Porsche 911 hat in den letzten 25 Jahren 18 Zentimeter und 93 Kilo zugelegt. Doch die Lotus Elise wiegt auch mit mittlerweile obligatorischen Gängeleien wie Airbags, ABS oder ESP und Zeitgeist-Zugeständnissen wie elektrischen Fensterhebern, Klimaanlage und – shocking – Teppichboden noch immer keine 1.000 Kilo und bleibt mit deutlich unter vier Metern ein Sportwagen für die Westentasche.
Während sich das Rad in der PS-Welt immer schneller dreht, ist für sie die Zeit beinahe stehen geblieben: Seit dem viel beachteten Debüt auf der IAA im Herbst 1995 haben die Briten den radikalen Roadster zwar kontinuierlich verbessert aber nie wirklich verändert. Deshalb ist die Elise auch in einem für Autos fast schon biblischen Alter von 25 Jahren noch immer jenes leichte Mädchen, das Fahrertypen so abgöttisch lieben, weil es keinen direkteren, analogeren und authentischeren Sportwagen gibt. Umso größer ist die Trauer, seit die Briten das Ende der Elise verkündet haben: Mittlerweile wie Volvo unter die Fittiche des chinesischen Großkonzerns Geely gerückt, soll Lotus – mal wieder – komplett umgebaut und zur emotionalen Elektro-Marke werden und für die Elise und ihre Geschwister Exige und Evora ist damit das Ende besiegelt.
Doch hat diese traurige Entscheidung auch etwas Gutes. Weil die Briten wissen, was sie ihrem Dauerbrenner und den Fans schuldig sind, putzt sich die Elise jetzt noch einmal kräftig heraus und bittet in einer Final Edition zu einem letzten Tanz. Und der ist heißer und verführerischer als je zuvor. Wer sich diesen Tanz für läppische 55.600 Euro aufwärts sichert, der wird mit mehr Fahrspaß belohnt, als man ihn bei Porsche oder gar Ferrari auch für sehr viel Geld kaufen kann.
Doch das Vergnügen ist harte Arbeit: Vor allem mit geschlossenem Verdeck ist der gerade einmal hüfthohe Zweisitzer allenfalls für Schlangenmenschen geeignet. Wer nicht gelegentlich auf der Suche nach den verlorenen Socken auch in die Trommel seiner Waschmaschine klettert, der hat kaum eine Chance, sich durch die schmale Lücke zu fädeln, die zwischen dem hohen Schweller und dem flachen Dach noch bleibt. Entweder man ist gelenkig wie eine WC-Ente, oder man ignoriert den bangen Blick an den Himmel und nestelt an der handtuchgroßen Stoffbahn, die zwischen Front- und Heckscheibe gespannt ist. Schnell zwei Spriegel gelöst, wie am Deckel einer Sardinendose gewickelt – schon steht der Zweisitzer offenherzig da. Und plötzlich wird auch das Einsteigen leichter: Einen Fuß auf den Sitz stellen, den zweiten nachziehen, kurz mit den Armen abstützen, die Füße am Lenkrad vorbei fädeln und dann einfach fallen lassen. Den Rest erledigt die Schwerkraft, und ans Aussteigen denkt man erst, wenn es so weit ist.
Diesen Gedanken zu verdrängen, ist nicht weiter schwierig. Denn Aussteigen ist so ziemlich das Letzte, was man nun tun möchte. Schließlich ist die nur 3,82 Meter lange und gerade einmal 1,12 Meter hohe Flunder, der man anders als Supersportwagen nie mit Neid oder Unverständnis, sondern immer nur mit einem anerkennenden Lächeln auf den Lippen begegnet, eine Fahrmaschine mit hohem Suchtpotenzial: Kaum ist der Startknopf gedrückt, gibt es kein Entrinnen mehr. Die Hände ruhen auf einem Lenkrad nicht größer als eine Langspielplatte und wechseln nur für Sekunden auf den Aluknauf, der wie ein Tischtennisball den Schaltstummel ziert. Die Füße fliegen über schlanke Pedale und die Augen halten gierig Ausschau nach der nächsten Kurve, die im Lotus mehr Spaß machen als in der Achterbahn.
Dafür sorgt auch die Sitzposition, die einen direkteren Fahrbahnkontakt vermittelt als in jedem anderen Serienauto. Man liegt so tief unten, dass man das Portemonnaie aus der Hosentasche nehmen möchte, damit es nicht am Asphalt schleift. Die Lenkung reagiert ohne Servounterstützung nicht erst auf einen Fingerzeig, sondern schon auf den schieren Gedanken an das Ende der Geraden, folgt dafür aber auch der kleinsten Spurrille oder zur Not auch mal der Fahrbahnmarkierung. Die Federung ist so hart, dass sich Staubkörner anfühlen wie Kieselsteine, das Getriebe klackert in der offenen Kulisse wie eine Kugel im Flipper, und die Bremsen beißen wie eine englische Bulldogge im Blutrausch.
Das Ergebnis ist ein Fahrgefühl, das intensiver und direkter ist als bei jedem anderen Sportwagen. Nicht nur Mensch und Maschine werden eins, sondern die Nerven scheinen über das Auto förmlich mit der Fahrbahn zu verwachsen und schon nach ein paar Kilometern tanzt man mit der Elise wie in Trance. Die Umgebung verschwimmt, die Wahrnehmung fokussiert sich auf die Ideallinie und die Straße wird zu einem Tunnel, durch den dieser Lotus wie auf Schienen jagt.
Die Musik zum Tanz mit der Elise spielt ein Vierzylinder, den Lotus bei Toyota eingekauft hat. Hatte die erste Elise noch 120 PS, stehen zum Schluss ihrer Laufbahn jetzt 243 PS im Datenblatt und katapultieren die Königin der Kurven gar vollends in die Kategorie der Supersportwagen. Natürlich nicht auf dem Papier. Denn ein 1,8 Liter großer Vierzylinder, 244 Nm und ein Spitzentempo von 237 km/h klingen eher nach Mittelklasse als nach Hypercar. Doch weil die Elise mit Alurahmen, Kunststoffkarosse und dem Verzicht auf alle überflüssige Ausstattung nur 922 Kilogramm wiegt, muss sie sich vor Lambo & Co nicht verstecken. Schon die 4,5 Sekunden für den Standardsprint verdienen Anerkennung, Tempo 100 fühlen sich in der Elise an wie 200 km/h in einem ausgewachsenen Sportwagen und wenn der Tacho bei Vollgas auf über 200 km/h klettert, wartet man fast schon auf den Knall beim Durchbrechen der Schallmauer. Natürlich kommt der nicht. Aber als schönen Trost hört man den Sound einer heiseren Drehorgel direkt im Nacken und wundert sich, wie aus einem Toyota-Triebwerk so viel Lust und Leidenschaft erwachsen kann.
Auch nach 25 Jahren ist die Elise noch so verführerisch wie beim ersten Mal und sie tanzt noch immer so leichtfüßig wie bei ihrem Debütantinnen-Ball zum Beginn der Cabrio-Saison 1996. Und ihr Konzept hat nichts von seinem Reiz verloren. Nicht umsonst hat sie nicht nur ihre eigenen Entwickler zu Ablegern wie dem Exige und dem Evora inspiriert, es so in der Familie auf über 50.000 Zulassungen gebracht und Lotus damit allen Irrungen und Wirrungen der zwischenzeitlichen Geschäftsführer zum Trotz das Überleben gesichert. Sondern sie hat auch viele andere Ingenieure inspiriert, hat Opel zwischenzeitlich den Speedster gebracht und war sogar Starthelfer für Tesla. Denn ohne die Elise als Basis hätte Elon Musk seine Roadster nie bauen können, und ohne die hätte Tesla die Erfahrung und das Renommee für Model S & Co. gefehlt.
Im Grunde ist es deshalb nur konsequent, wenn jetzt auch die Elise in der nächsten Auflage elektrisch wird. Selbst wenn dann zum Tanz eine ganz andere Musik spielt. Und wer darauf keine Lust hat, dem bleibt als Trost das Wissen, dass Aluminium und Kunststoff vergleichsweise rostbeständig sind: Solange sie also immer brav auf der Ideallinie bleibt und nicht in der Leitplanke landet, wird dieses leichte Mädchen das Tanzen so schnell nicht lassen.
Fotos: Lotus