Anfang der 1990er erkannten Renault Fans ihre Marke kaum wieder. Vorbei die Zeit der Ziffernherrschaft mit nüchternen Zahlencodes von R25 bis R5, stattdessen waren Emotionen und Kreativität bei Karosseriekonzepten und Modellnamen angesagt. So wie beim charmanten Cityflitzer Clio, der anfangs vor allem als Frauenverführer für Furore sorgte. Beim Modellnamen bezog sich der in fröhlichen Farben und rundlichen Formen gehaltene Renault auf die olympische Muse Clio aus der griechischen Mythologie. Und da die göttliche Clio für die Heldendichtung zuständig war, verpasste das Renault-Marketing dem modernen Nachfolger des altgedienten R5 eine kreative Herkunft „Made in Paradise“. Inklusive züngelnder Stoffschlange auf dem Beifahrerplatz, die im Kopfkino der Kleinwagenkäuferinnen den Werbespot präsent halten sollte.

Aber als echter Held konnte der Clio auch die männlichen Kunden begeistern, gab es ihn doch rasch als kräftigen Krawallo mit dem Namen des Formel-1-Weltmeisterteams von 1992: Der Clio Williams setzte 110 kW/150 PS frei, da blieben Golf GTI & Co chancenlos. Mehr als 15 Millionen Clio in fünf Generationen konnte Renault bis heute absetzen, das genügt für einen Platz auf dem Olymp der europäischen Kleinwagenverkaufscharts. Sogar mit den noch länger verkauften Ford Fiesta, Opel Corsa und VW Polo fährt der Clio fast auf Augenhöhe.

Nicht mitgezählt sind die aufregenden automobilen Spezialitäten, die frankophile Herzen höherschlagen lassen. Darunter ist der futuristische Leichtbau-Renner Renault Sport Spider, der 1995 mit Clio-Williams-Kraftquelle einen Ersatz für die eingestellten Alpine-Sportwagen bot, aber auch das schärfste Supercar zur Jahrtausendwende: Der 1999 eingeführte Clio Renault Sport V6 konnte es mit Maserati und Porsche aufnehmen. Für eindrucksvollen Vortrieb sorgte ein quer hinter Fahrer- und Beifahrersitz eingebautes V6-Triebwerk mit drei Litern Hubraum, das zunächst 166 kW (226 PS) an die Hinterräder lieferte, aber mehrfach nachgewürzt wurde und für Motorsportzwecke auf 210 kW/285 PS erstarkte. Genug Power für Tempo 250 auf der Straße und 280 km/h Vmax auf Rennstrecken. Die 100-km/h-Schallmauer durchbrach der breitbackige Mittelmotor-Racer nach gut fünf Sekunden, kein Wunder, dass dieser weitgehend in Handarbeit gebaute V6 heiß begehrt war – trotz eines Preises von mindestens 75.000 Mark.

Ein extremes Kontrastprogramm zu diesem Clio aus Traumwagenkreisen boten Volksfahrzeuge, die hierzulande unbekannt geblieben sind. Unter den Namen Symbol, Thalia, Tricorps oder schlicht Clio Sedan wurden Clio-Stufenhecklimousinen in Osteuropa, der Türkei, Südamerika und Afrika produziert. Hinzu kam der Clio-Zwilling Nissan Platina, der in Asien und Amerika Karriere machten. Und dann gab es noch Dacia, die erfolgreiche Renault-Billigmarke aus Rumänien. Auch Dacia-Modelle wie Logan und Sandero bedienten sich zumindest der Antriebskomponenten aus dem Clio, der andererseits auf manchen Märkten mit Stufenheck als Renault Logan reüssierte.

An eine derartige Variantenvielfalt war am Anfang der Clio-Story noch nicht zu denken. Damals, mitten in den für Renault freudlosen 1980ern mit rückläufigen Marktanteilen und Produktionszahlen, trat Georges Besses als neuer Konzernchef an und legte als eine von mehreren Sofortmaßnahmen das Projekt X-57 auf: die Suche nach einem Nachfolger für den legendären Renault 5. Frische französische Kleinwagen wie Peugeot 205 und Citroen AX hatten dem R5 zugesetzt, für Abhilfe sollte der unter dem Tarncode X-57 entwickelte Clio sorgen. Dazu spendierte Renault seinem designierten Ministar für die 1990er Jahre Komfortfeatures und Sicherheitstechnik aus größeren Klassen und Designer Attabeyki verpackte die gegenüber dem Renault 5 um zwölf Zentimeter auf 3,71 Meter gestreckte Karosserie in gefällige Konturen.

Auch Giorgio Giugiaro hatte für den Clio einen Entwurf vorgelegt, allerdings fiel dieser für Renault-Präsident Raymond Lévy zu kantig aus. Lévy folgte schon 1986 auf Georges Besses, der von politischen Terroristen ermordet worden war. Dennoch zog Lévy die für 1990 geplante Privatisierung des Staatskonzerns Renault ebenso konsequent durch wie die Politik der sogenannten Qualité Totale, die dem Clio als zweitem Modell nach dem Renault 19 eine Produktqualität nach japanischem Vorbild bescherte.

Ein klapperfreier, fast schon vorbildlich rostgeschützter und zudem zuverlässiger Kleinwagen: Der Franzose schien auch in dieser Hinsicht „Made in Paradise“ und er forderte sogar den VW Polo heraus. Das dachten so kurz nach dem Mauerfall vor allem viele Ostdeutsche, die den kompakten Clio ganz besonders schätzten. Einen Clou landete außerdem die Supermarktkette Massa, denn dort stand der Clio zum Ärger von Renault schon zur Feier der Einheit zwischen den Regalen, während die deutschen Renault-Händler erst im Januar 1991 beliefert wurden. Aber auch in den alten Bundesländern kam der Clio gut an, zumal er durch Einsätze bei Markenpokalen und Rallyes ein damals besonders gefragtes sportliches Image gewann. Und auf deutschen Autobahnen schlug er als 209 km/h schneller Clio 16V alle Erzrivalen von Peugeot 205 GTI bis Polo G40.

Noch mehr überraschte der Clio aber durch Luxusversionen wie der Baccara-Linie, die mit Klimaanlage, Ledersitzen und Walnussholz ein Loungeambiente vermittelte, das an die englische Upperclass erinnerte. Für die ganz großen Stückzahlen gab es natürlich die „Brot-und-Butter“-Benziner und -Diesel. Auch dank dieses breiten Minicar-Portfolios schoss die Marke Renault in Deutschland von 2,9 Prozent auf rekordverdächtige, fast 7 Prozent Marktanteil und in Europa konnten die Gallier sogar Ansprüche auf die Pole Position in der kleinen Klasse anmelden.

Fotos: Renault

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