Hannah Arendt, Eva und George Grosz, Mascha Kaléko, Eva und Victor Klemperer, Käthe Kollwitz, Else Lasker-Schüler, Joseph Roth, Kurt Tucholsky und anderen Künstlern, Intellektuellen und Autoren folgt Kristine von Soden mit ihrer historischen Spurensuche auf den Fahrten ans Meer.
Wer jetzt am Ostseestrand Ferien macht, baden geht, lange Standspaziergänge unternimmt und am Abend von der beleuchteten Terrasse aus dem rhythmischen Rauschen des Meeres lauscht, wird das von Kristine von Soden verfasste Buch „Ob die Möwen manchmal an mich denken?“ besonders aufmerksam lesen. Wo heute Kinder tief versunken Sandburgen bauen und verliebte Paare übermütig in die Wellen springen, spielten sich einst Szenen diffamierender Erniedrigung gegenüber jüdischen Menschen ab. Völkisch-nationale Propaganda verbreitete bereits in der Kaiserzeit eine antisemitische Stimmung in den gerade erst modern gewordenen Ostseebadeorten, die immer lauter, immer gewaltbereiter grölte und verhöhnte. Schon zu dieser Zeit war die Parole „Judenrein!“ zu lesen und zu hören, Jahrzehnte bevor es 1937 in nahezu allen Orten und an allen Stränden für jüdische Badegäste verboten war, sich aufzuhalten oder zu baden. Wie erlebten die jüdischen Badegäste diese Zeiten? Wie gestaltete sich das sommerliche Leben abseits der Städte, während sich die antisemitische Hetze in den Badeorten ausbreitete.
Sehr wenig ist bisher über den Alltag unter diesen Bedingungen bekannt. Menschen, die von den Nationalsozialisten verfolgt wurden und denen es gelang, zu fliehen oder in Deutschland auf gefahrvolle Weise zu überleben, erinnerten sich oft Jahrzehnte später an ihre Erlebnisse und Begegnungen. Auch in Briefen, Tagebüchern und Reisenotizen sind hier und da Beschreibungen über die Küstenlandschaft und die Badeorte zu finden. Kristine von Soden hat dieses Quellenmaterial sorgfältig gesichtet. Mit einem sensiblen Gefühl für die Sprache der Zeit berichtet sie von den allmählichen Veränderungen, von der Natur-Sehnsucht der Städter und den wachsenden Bedrohungen. Parallel dazu hat sie ebenso quellenkritisch Zeitungen und Zeitschriften sowie Werbematerialien der Badeorte analysiert. So gelingt es ihr auf ganz unterschiedlichen Ebenen kaleidoskopartig die Entwicklungen in den wachsenden und immer populärer werdenden Seebädern von der Wilhelminischen Ära über den Ersten Weltkrieg und die Weimarer Republik bis hin zum Nationalsozialismus zu verfolgen. Dabei legt sie ihr 208 Seiten umfassendes Buch zum einen als eine historische Reise an, die weit im Osten in den ältesten Ostseebadeorten beginnt und westwärts führt. Mit dem individuellen Leben, mit dem Gesicht eines Menschen verbindet sich umso eindringlicher, umso bedrohlicher die Chronologie der Verrohung, die die Autorin offenlegen kann.
Kristine von Soden hat mit diesem Buch ein wichtiges Werk geschaffen, das einen Abschnitt der Bädergeschichte beleuchtet, der den wachsenden alltäglichen Antisemitismus vor der Kulisse von Meer und Strand aufzeigt. Das ist erhellend und erschreckend zugleich und wird den Blick auf Hiddensee, Zinnowitz, Binz, Warnemünde und viele andere Badeorte verändern.
Kristine von Soden: „Ob die Möwen manchmal an mich denken?“Die Vertreibung jüdischer Badegäste an der Ostsee. Aviva Verlag; 20 Euro.
Text: Editha Weber