Nein, sie waren keine fliegenden Holländer und doch sollten die im niederländischen Born gebauten Volvo 400er Modelle abheben. In den Verkaufscharts als erfolgreiche erste Volvo mit Frontantrieb und auf der Straße bei Vmax-Duellen, wie sie Ende der 1980er Jahre populär waren. Tatsächlich vermittelte dieser Volvo seinen Fans und sogar Fachjournalisten ein prickelndes Gefühl der Überlegenheit, wenn er etwa als 440 Turbo die Tachonadel bis zum Anschlag auf über 220 km/h trieb. Ein Tempo, in dem Jets abheben und das weit oberhalb der offiziellen Werksangabe für diesen Volvo-Fünftürer mit frechem Stummelheck lag. Heute, 30 Jahre nach seinem Launch, macht dieses Temperament den Turbo zum tollen Youtube-Star mit Filmen von Vmax-Fahrten.
Gerade einmal 88 kW/120 PS genügten dem Volvo 440, damit der mit schwedischen Sicherheitsinnovationen vollgepackte und von französischen Renault-Triebwerken befeuerte kompakte Mittelklässler zum Konkurrenten schneller GTI und kleiner Sechszylinder avancierte. Damit erfüllte der Toptyp der 400er Serie genau die Erwartungen, die in einer Werbekampagne geweckt wurden. „Lieben Sie Überraschungen?“, fragte Volvo dort und propagierte „Leistung aus Prinzip“. Das klang zwar arg vollmundig angesichts bescheidener 64 kW/87 PS im Einstiegs-Typ Volvo 440 GL, andererseits war der Vorgänger-Volvo 343 DL noch beschaulicher unterwegs. Deshalb sollte der 440 gemeinsam mit dem viertürigen 460 und dem Shooting Brake 480 sogar Flagge zeigen, wo sonst Fahrdynamiker dominierten.
Mit einem Neustart ist das oft so eine Sache, brauchen doch Imagewandel und frischer Wind in den Verkaufszahlen meist mehr Zeit als der Automobilhersteller kalkuliert. Eine Erfahrung, die auch Volvo mit seiner dynamisch ausgelegten 400er Baureihe machte. So symbolisierten die kantigen Charaktertypen für die Skandinavier das Sprungbrett in die Ära des Frontantriebs mit quer eingebauten Motoren und mehr Sportlichkeit. Schon das erste Mitglied der 400er Serie, der Volvo 480, wurde bei seiner Vorstellung im Jahr 1985 als neuer schwedischer Sportwagen im Stil des legendären Schneewittchensargs Volvo 1800 ES angekündigt. Sollte der viersitzige 480 ES doch das Premium-Image dieses spektakulär geformten Gran Turismo und dessen sportliches Temperament auf die kleine Klasse transferieren. Was dem 4,25 Meter messenden 480 trotz seines ebenfalls extravaganten Stylings nur ansatzweise gelang. Kündete seine keilförmige Klappscheinwerferform doch von mehr Leistung als sich zunächst unter der Motorhaube fand. Vor allem aber litt der in Holland gebaute 480 – ähnlich wie anfangs der DAF-Erbe Volvo 343 – an Qualitätsdefiziten vielfältiger Art, die erst im Lauf der Jahre eliminiert wurden.
Besonders auf dem schwedischen Heimatmarkt war bereits die Rede von einer „holländischen Krankheit“ als 1988 das eigentliche Volumenmodell der 400er Serie, der Volvo 440 mit kuriosem Stummelheck, vorgestellt wurde. Allerdings hatte die Göteborger Marke die vorausgegangenen negativen Erfahrungen genutzt, um den 4,31 Meter langen Fünftürer fehlerfrei zu launchen. So stand in der Triebwerkspalette von Beginn an auch der kräftige Turbo bereit, schließlich sollte der 440 – ebenso wie die nachgeschobene Limousine 460 – das Premium-Image der großen 700er Volvo in die kleine Mittelklasse transferieren. Deshalb wurde der sportiv angehauchte 440 Volvo-typisch als familienfreundlicher „Bodyguard“ beworben. Bis zu 1.027 Liter Volumen bot das variable Gepäckabteil unter der großen Heckklappe, was nach Meinung des Volvo-Vorstands einen klassischen Kombi entbehrlich machte. Dennoch präsentierten verschiedene Karossiers wie ASC in den USA oder Heuliez in Frankreich entsprechende 440 Concept Cars. Laderiesen, die aber nicht in Serie gehen durften und selbst ein vom belgischen Unternehmen ATC für das Aftersales-Geschäft konzipierter Kombiumbausatz konnte nur in Kleinstserie hergestellt werden.
Keine Kombiform für die 400er Serie also, dafür immerhin alle Attribute des Volvo-typischen Sicherheitsavantgardisten. So wurde die als Sicherheitskäfig konzipierte Karosserie um einen integrierten Überrollbügel und Verstärkungen in den Türen als Seitenaufprallschutz ergänzt. Serienmäßiges ABS, Airbag, die automatische Sicherheitsgurt-Höhenverstellung und neuartige pyrotechnisch gezündete Gurtstraffer wurden mit dem ersten Facelift eingeführt. Beste Basis, um für den Volvo 440 den Marketing-Beinamen Bodyguard im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu verankern.
Jedenfalls dort, wo der 440 entsprechend beworben wurde. Auf dem schwedischen Heimatmarkt konnte die gesamte 400er Serie nie einen echten „Haben wollen“-Effekt auslösen, was auch daran gelegen haben mag, dass sie eben nicht „Made in Sweden“ war. Daran änderten auch die Qualitäten als Langstreckenläufer nichts, die 440 und 460 mehr als fast alle Wettbewerber in sich trugen. Jedenfalls lobten Prüforganisationen und Pannendienste die Unauffälligkeit der technisch robusten und mit verzinkten Stahlblechen aufwartenden Modelle geradezu überschwänglich. Hinzu kam der fast konkurrenzlos geringe Wartungsaufwand, den Volvo mit nur zehn Servicestunden für die ersten 100.000 Kilometer kalkulierte, die Inspektionsintervalle wurden gegenüber dem Vorgänger 340 und dem Urgestein Volvo 240 sogar verdoppelt.
Damit war die Volvo 400er Serie auch bestens präpariert für die endlosen Highways in Nordamerika und Australien. Tatsächlich entwickelte Volvo bereits vom 480 spezielle US-Versionen mit Dachreling und V6-Motor unter dem verlängerten Vorderwagen und sogar ein 480 als rassiger Mittelmotor-Zweisitzer stand in den Startlöchern. Ganz zu schweigen von den 480 Cabriolets, die zu den Highlights vieler Motorshows zählten. Am Ende aber wagte sich Volvo nur nach Down Under, wo die „Aussies“ die Schweden mit niederländischen Wurzeln und französischen Renault-Motoren als stilsichere Alternative zu den in Australien dominierenden japanischen Modellen akzeptierten.
In Europa wiederum war es der japanische Hersteller Mitsubishi, mit dem Volvo am niederländischen Produktionsstandort Born zu neuen Zielen startete. Nachdem die Stückzahl der 400er Serie hinter den Erwartungen blieb – und am Ende der elfjährigen Bauzeit mit knapp 700.000 Einheiten sogar das Ergebnis des Vorgängermodells Volvo 300 klar verfehlte – sollte die 1991 gegründete Kooperation Nedcar Aufschwung bringen. Ab 1995 bot dieses neue Werk in Born Kapazitäten von 200.000 Einheiten pro Jahr, die jeweils hälftig von Mitsubishi für den Carisma und von Volvo für die Typen S40 und V50 vorgesehen waren. Aber das ist eine neue Geschichte. Die Grundlage dafür legten die Typen Volvo 440, 460 und 480. Drei Jung-Dynamiker, die zwar nicht mit dem Kultstatus klassischer Wikinger aufgeladen wurden. Dafür machten sie Volvo fit für eine Zukunft mit Frontantrieb in allen Klassen. Auf dem Klassikermarkt ist es ausgerechnet der durch Kinderkrankheiten in Verruf geratene 480, der die Baureihe im Gespräch hält. Die Kombination aus gläserner Klappe und Klappscheinwerfern macht ihn unwiderstehlich.
Text: Wolfram Nickel/SP-X
Fotos: Volvo/SP-X