Vespa-Sondermodell Sei Giorni: Mit 66 Jahren…

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Da steht sie nun in ihrer beinahe verstörenden Schönheit, die Vespa Sei Giorni. Matt schimmert der grüne Metalliclack, prall wölben sich die Hinterbacken über dem Einzylindermotor. Keck trägt sie nicht nur den Scheinwerfer auf dem vorderen Kotflügel, sondern auch zwei schwarze Startnummer-Aufkleber zur Schau, einen links vorne am stählernen Beinschild, den anderen an der rechten Po-Backe. Eine weiße 6 auf schwarzem Grund dient als Symbol für das nummerierte „Sechstage“-Sondermodell, denn genau das bedeutet „Sei Giorni“, sechs Tage.

Es waren sechs harte Tage vom 18. bis zum 23. September 1951. 220 Zweiradfahrer kämpften bei der härtesten Geländeprüfung im Endurosport im gebirgigen Hinterland des Lago Maggiore um Medaillen und Trophäen. Immerhin 92 Teilnehmer durften am Abend des sechsten Tages für sechs strafpunktfreie Renntage eine Goldmedaille in Empfang nehmen. Neun von ihnen waren auf einer Vespa 125 angetreten, angetrieben von einem sieben PS starken Zweitaktmotor. Es war der größte Motorsporterfolg der damals erst fünf Jahre alten italienischen Rollermarke, deren Produkte sich im Lauf der folgenden Jahrzehnte zu Kult-Fahrzeugen entwickelten. Jetzt, 66 Jahre nach dem Erfolg des Jahres 1951, entsinnt sich der Piaggio-Konzern des damals wie heute gleichermaßen sensationellen Sporterfolges.

Die Sei Giorni entspricht technisch zu 99 Prozent dem seit 2008 angebotenen und 2014 modifizierten Modell GTS 300 Super, doch optisch gibt es Unterschiede. Als Motor wird die jüngste, nach Euro-4-Bestimmungen abgestimmte Version des 278 Kubikzentimeter großen Einzylindermotors montiert. Er ist flüssigkeitsgekühlt, ohne dass dies augenfällig würde. 21 PS oder knapp 16 kW gibt der Hersteller als Maximalleistung an, technisch bedingt stehen maximal 17 Pferdestärken für den Vortrieb zur Verfügung. 118 km/h lautet die Höchstgeschwindigkeit. Sie ist, seien wir ehrlich, unbedeutend. Denn die Vespa 300 fährt kaum jemand einmal aus – nicht weil das unsicher oder unkomfortabel wäre, sondern weil das Fahren einer Vespa per se entschleunigt. Alles an ihr funktioniert geschmeidig und damit Stress vermeidend. Klettert die Tachonadel mal auf 110, ist es meistens gut.

Rundum zufriedenstellend gibt sich zudem das Fahrwerk. Auch wenn die Räder mit 12 Zoll Durchmessern noch immer verhältnismäßig klein sind, so lässt sich die Sei Giorni selbst außerorts auf Straßen mit minderen Belägen sicher – und nicht mal unkomfortabel – bewegen. Verzichten gegenüber dem Basismodell muss der Fahrer allerdings auf die Schlupfkontrolle ASR, die ein auf Glätte durchdrehendes Hinterrad im Zaum hält.

Dicht am Ur-Modell von 1951 ist die Sei Giorni mit dem Scheinwerfer; er sitzt auf dem stählernen Kotflügel, ist allerdings weitaus schicker befestigt als sein 66 Jahre altes Vorbild. Natürlich bedingt dies eine Etage höher optische Änderungen, wo demzufolge ein Scheinwerfer nicht mehr vonnöten ist. Die ansonsten üppige, in Fahrzeugfarbe gehaltene Kunststoffverkleidung von Lenker, Cockpitanzeige und integriertem Rundscheinwerfer entfällt; stattdessen hat man eine einzelne Abdeckung des Steuerkopfs entworfen, auf der die Anzeigenkombi thront. Zum zweifach abgewinkelten Analog-Tachometer addieren sich eine Analog-Benzinuhr plus vier Kontrollleuchten, weiter unten befindet sich ein kleines Display für die Uhrzeit.

Nach vorne wird dieses Anzeigeelement von einem leicht getönten Plexiglas-Windschild abgeschirmt – eine optisch gefällige, zudem funktionale Lösung, denn so gibt’s ein wenig Windschutz für den Oberkörper. Erstmals seit gefühlten 50 Jahren ist bei einer Vespa ein unverkleideter Chrom-Rohrlenker zu sehen. Mit den aufmontierten Behältern für die Bremsflüssigkeit, den Kabelbindern und Bowdenzügen sieht der Bereich vor dem Fahrer bei weitem nicht so aufgeräumt auf wie das bei den GTS-Modellen seit Jahren üblich ist. Unverständlich ist, warum die Designer die doch ziemlich voluminösen Lenkersatelliten mit den Schaltern für Fernlicht, Blinker, Starter etc. in glänzendem Schwarz lackieren lassen, wo sich doch sonst ausschließlich mattschwarzer Lack am Fahrzeug findet.

Ebenfalls verändert ist der Sitz der Sei Giorni; mit dem angedeuteten Höcker am hinteren Ende ist Sozia-Beförderung nur dann möglich, wenn die Dame über eine echte Wespentaille verfügt und sich dicht an den Fahrer kuschelt. Andere Eigenheiten der GTS-Familie weist die Sei Giorni dagegen durchaus auf: So kratzt der Seitenständer beim engagierten Absolvieren von Linkskurven, und der Tankstutzen bedarf höchster Aufmerksamkeit, um beim Füllen lästiges Spritzen zu vermeiden.

6.390 Euro hat Hersteller Piaggio als unverbindliche Preisempfehlung für den deutschen Markt festgesetzt. Freunde der Marke erhalten dafür einen gediegen zu fahrenden, wendigen Roller, der im dichten Stadtverkehr seine Wuseligkeit auszuspielen vermag und außerhalb der Stadt kein bisschen deplatziert wirkt. Wir sind ihn auf Straßen, Sträßchen und Wegen gefahren, die schon 66 Jahre zuvor von den Piaggio-Firmensportlern absolviert werden mussten – die meisten Bergstrecken waren seinerzeit aber noch ohne festen Belag. Heute sind die Strade Provinziale Nummer 7 und 8 der Provinz Varese sämtlich asphaltiert, wenngleich der Belag über weite Strecken längst nicht mehr neuwertig ist. Aber extrem kurvenreich ist diese Route über den gut 1.000 Meter hohen Passo Cuvignone nach wie vor – und wer sie heutzutage an einem schönen Herbsttag mit einer Vespa Sei Giorni befährt, darf sich glücklich schätzen und sich und seiner Vespa eine virtuelle Goldmedaille verleihen. Und wenn’s nur die für den „Goldenen Oktober“ im Kurvengewürm oberhalb des Lago Maggiore ist.

Text: Ulf Böhringer/SP-X
Fotos: Piaggio

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