Liebe Leserinnen!
Liebe Leser!

Wie bestreiten Sie eigentlich lange Reisen ohne Begleitung im Automobil? Also Fahrten über ein paar Hundert Kilometer, über einige Stunden. Sagen wir mal ab 500 Kilometer und fünf Stunden aufwärts. Lassen Sie sich vom Radio berieseln, wechseln Sie die Frequenz, um den Sender mit den besten Verkehrsnachrichten zu empfangen, lauschen Sie Musik aus externen Tonträgern oder schieben Sie vielleicht auch mal ein Hörbuch ein? Letzteres, so habe ich mir im Kollegenkreis bestätigen lassen, soll sich immer größerer Beliebtheit erfreuen.

Nun, in dieser Woche hatte ich – unfreiwillig – mein eigenes Hörbuch. Dafür aber eines, das so spannend, so autark und von der Streckenführung her so passend und eindringlich war, wie ich mir das hätte nicht aussuchen können. Es war am Donnerstag dieser Woche, als ich, von einem Autotermin nahe Frankfurt/Oder kommend, auf dem Weg zurück nach Hause war. In meinem Falle bedeutet das einmal quer durch die Republik – vom äußersten Osten bis an die Grenze nach Luxemburg und Frankreich.

Es war, als hätten sich Datum und Reisestrecke an diesem Tag verabredet. Es war der 9. November, der 22ste Jahrestag des Mauerfalls und ich hatte unter anderem Berlin, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen zu durchqueren. Von den paar Hundert Kilometern Hessen und Rheinland-Pfalz, die noch hinten drauf kamen, will ich erst gar nicht reden. Alle Sender von RBB, Figaro, MDR oder Landeswelle Thüringen ließen das Thema Mauerfall 1989 und Wiedervereinigung an diesem Tage natürlich permanent über den Äther runter laufen.

Mir gingen dabei die verschiedensten Dinge durch den Kopf, während ich auf der A9 von Berlin über Leipzig Richtung Hermsdorfer Kreuz und von dort über die A4 quer durch Thüringen Richtung Westen unterwegs war. Ich dachte an den ersten Autotermin, den ich 1990 hinter dem jahrelangen „Eisernen Vorhang“ absolvierte. Abgesehen von einem Besuch im Grundschul-Alter Ende der 50er Jahre war es meine erste Visite „drüben“, wie wir im Westen zu sagen pflegten. Ford stellte damals in der Lutherstadt Wittenberg den neuen Scorpio vor. Obwohl dieses Ungetüm an Auto nun wirklich keine Ikone der Gestaltungskunst war, weiß ich noch heute – mehr als 20 Jahre später – dass der Wittenberger Marktplatz voll von Menschen war, die um dieses Fahrzeug eines US-Herstellers herum standen und es von allen Seiten begutachteten.

Seit dieser Zeit sind viel – auch unnötige – Trabi-Witze gerissen worden. Es dauerte lange, bis die gegenseitigen Gräben, auch im Kollegenkreis, allmählich ihre Tiefe verloren und ein gemeinsamer Konsens entstand. Ich persönlich habe über die Jahre hinweg die Erfahrung gemacht, dass beide Seiten eigentlich nur voneinander profitieren konnten, wenn man eine gesunde berufliche Neugierde an den Tag legte und sich keine Seite eine rechthaberische und anmaßende Ideologie zurecht zimmerte. Ich habe in dieser Zeit, zum Teil bis heute, immer wieder Ost-Kollegen kennen und schätzen gelernt, die mir viel Wissenswertes und Unbekanntes über das Thema Mobilität innerhalb der Grenzen der DDR berichten konnten. Über Dinge, derer man sich erst mit einer gesunden Portion Fähigkeit zum genauen Hinhören wollen, bemächtigen konnte. Für mich waren solche Erzählungen in der Regel spannender als der beste „Tatort“.

Nie hätte ich sonst hintergründige Interna über die Eisenacher Motorenwerke, über die vielen Querverbindungen von EMW und BMW, über die Besonderheiten des Schleizer Dreiecks, dieser faszinierenden Natur-Rennstrecke, oder über viele andere automobile „Ostalgie-Produkte“ erfahren. Meine Fahrt 22 Jahre nach dem Tag des Mauerfalls, fast von der polnischen bis an die französische Grenze, dauerte bei teilweise dichtem Nebel, über neun Stunden. Aber sie hatte für mich auch teilweise mein ganz persönliches Hörbuch eines aufwühlenden und ganz besonderen Teils deutscher Geschichte parat. Auch wenn man es nur unter dem Aspekt der persönlichen Mobilität sieht.

Nach diesem kostenlosen historischen Diskurs hatte ich jedenfalls das Gefühl, als seien die Stunden im teilweise dichten Nebel wie in einem Kino-Vorspann der Wochenschau verlaufen. Nur: Es darf halt bei allem gesteigerten Interesse für die Sache auch in einem solchen Falle nicht auf Kosten der Konzentration am Steuer gehen.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein angenehmes Wochenende.

Ihr Jürgen C. Braun

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