Buenos Aires: Schaulaufen der „Rostlauben“

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Wer in San Telmo vor sein Hotel tritt, wähnt sich in einer anderen Zeit: Über das Kopfsteinpflaster rumpeln verbeulte Peugeot 504, der Renault 11 ist hier so selbstverständlich wie bei uns der Mégane, und der antiquierte Ford Falcon fährt häufiger vorbei als eine A-Klasse. Dabei schreiben wir das Jahr 2010 und sind mitten im Herzen der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires. Doch moderne Autos sind hier Mangelware. In einem Land, das seit Jahren von schweren Wirtschaftskrisen gebeutelt wird und erst langsam wieder auf die Füße kommt, gibt es für die Bevölkerung wichtigeres als Glanz und Gloria auf der Straße.

Entsprechend gering ist die Zahl der Neuzulassungen in dem 40-Millionen-Staat: Während im Nachbarland Brasilien über drei Millionen Autos pro Jahr verkauft werden, waren es hier 2009 nur 500.000, sagt Gerardo San Roman, der für Marktforscher Jato Dynamics das Autogeschäft in Lateinamerika beobachtet. Um das Geschäft anzukurbeln, gibt es immer wieder staatliche Initiativen und unkonventionelle Finanzierungsangebote – selbst Bausparverträge haben die Argentinier für den Autohandel adaptiert. „Doch lösen solche Kampagnen keine Kaufbegeisterung aus“, sagt Automobilwirtschaftler Ferdinand Dudenhöffer und nennt als Gründe hierfür insbesondere eine steigende Arbeitslosenquote und die schwache Landeswährung Peso.

Anders als in vielen anderen Schwellenländern sind es in Argentinien nicht die US-Modelle oder die Autos aus Asien, die in den Straßen von Buenos Aires den Ton angeben. Bestimmt wird die Szenerie von Europäern wie dem Peugeot 207, dem Renault Clio, den Fiat Palio, von verschiedenen VW-Modellen sowie den Opel-Exporten Corsa und Meriva, die hier allerdings als Chevrolet verkauft werden: „Die Europäer regieren den Markt“, sagt San Roman, „denn im Grunde ihres Herzens halten sich die Argentinier für Europäer. Je europäischer ein Auto ist, desto besser“, fasst er die Vorlieben zusammen. Das gilt freilich nur für Marke und Modell. Denn produziert werden die Autos meist in Südamerika: Was nicht aus Brasilien kommt, bauen VW, Ford, Peugeot oder Citroën sogar direkt vor den Toren von Buenos Aires.

Dass Argentinien nach einer Statistik von Branchenexperte Ferdinand Dudenhöffer deutlich untermotorisiert ist und mit 177 Autos pro 1.000 Einwohner etwa auf dem Niveau von Rumänien (170 Autos/1.000 Einwohner) liegt, davon ist an einem Werktag in der Hauptstadt allerdings wenig zu spüren. Denn in den Straßen von Buenos Aires ist trotzdem mehr als genug Betrieb. Vor allem in der Rushhour auf der Avenida 9. Juli verschlägt es Europäern gerne mal den Atem: Auf sage und schreibe 20 Spuren quält sich der Verkehr dann über eine Prachtstraße, neben der die Champs d’Elysees zu einem besseren Feldweg verkommt.

Bestimmt wird das Straßenbild der Stadt, die mit dem Umland auf knapp 15 Millionen Einwohner kommt, von einem Heer schwarzer Taxen, die mit ihren gelben Dächern überall herausstechen. Zwar würde man in Deutschland lieber zu Fuß gehen als dort einzusteigen, doch für Argentinien sind der Stufenheck-Corsa, der Fiat Palio oder Renault Stepway richtig große Autos. Und wenn man Glück hat, erwischt man auch einen Ford Escort oder einen alten Peugeot 504 und hat so etwas mehr Platz für eine Fahrt, die selbst auf kurzen Strecken gerne mal eine halbe Stunde dauern kann. Dafür kostet sie aber fast nichts – einmal quer durch die Stadt macht kaum mehr als 40 Pesos oder umgerechnet etwa acht Euro.

Was Autofans dabei zu sehen bekommen, ist ein verbeultes Panoptikum von Youngtimern und Exoten. Denn neben den rollenden Rostlauben gibt es in Argentinien jede Menge von Modellen, die eigens für den südamerikanischen Markt gebaut werden und in Europa deshalb nie auf die Straße kommen. So wird aus unserem Ford Fusion jenseits des Atlantiks der kleine Geländewagen EcoSport, den Citroën C4 gibt es auch als Limousine, unsere Dacias heißen dort Renault, der Clio bekommt einen angesetzten Kofferraum und VW hat gleich die halbe Modellpalette auf den lokalen Markt abgestimmt. „Golf und Polo wären hier unverkäuflich, weil sie für Argentinien viel zu teuer sind“, sagt Ernesto Baldassare, der in der Hauptstadt vier VW-Autohäuser betreibt und rund 500 Fahrzeuge im Jahr verkauft. Darunter sind zwar auch eine handvoll Passat und Tiguan. Doch am besten laufen bei ihm der kleine Van Suran auf Basis des auch bei uns angebotenen Brasilianers Fox und der Gol. Das ist in Argentinien der Golf des kleinen Mannes und eigentlich ein billig gemachter Polo auf einer eigenen Plattform.

Mit diesen Autos hat VW in Argentinien großen Erfolg: Zwar ist das meistverkaufte Auto der Corsa (28.000 Zulassungen), gefolgt vom Peugeot 207 (24.000 Zulassungen). Doch kommen danach gleich zwei Generationen Gol mit je 21.000 Zulassungen, die zusammengenommen deutlich in Führung liegen. Außerdem ist mit 17.000 Zulassungen auch der Suran unter den Top 10. So kommen die Niedersachsen auf einen Marktanteil von knapp 21 Prozent und sind damit die alles bestimmende Kraft. Mit auf dem Treppchen stehen noch Chevrolet (15 %) und Ford (13 %), gefolgt von Renault, Fiat und Peugeot.

Während es überall nur so vor Kleinwagen wimmelt, sieht man große Autos nur selten: In einem Land, in dem der Präsident VW Passat und Peugeot 607 fährt, ist eine Mercedes S-Klasse so rar wie bei uns ein Maybach. BMW X5 oder Audi A6 fahren selbst in Buenos Aires nur alle paar Stunden mal durchs Bild, und wer echte Sportwagen sehen will, der muss ins Fangio-Museum fahren. „Mit einem Anteil von etwa 60 Prozent ist Argentinien ein typischer Kleinwagenmarkt“, sagt Dudenhöffer: „Der Rest entfällt auf die Mittelklasse und nur ein ganz geringer Anteil von deutlich unter fünf Prozent auf die größeren Modelle.“

Kein Wunder, dass der Argentinier offenbar keine sonderlich großen Erwartungen an sein Auto knüpft. „Zwar verkaufen wir den Passat auch mit Lederpolstern, elektrischen Helfern und Airbags“, sagt Baldassare. Doch vor allem bei den Kleinwagen geht es den Kunden nur um einen möglichst niedrigen Preis: „Für Airbags oder elektrische Fensterheber gibt da keiner Geld aus, und selbst am ABS wird oft noch gespart“, sagt Baldassare. Nur eines ist ein Muss: „Ohne Klimaanlage fährt hier keiner vom Hof. Bei Temperaturen über 30 Grad und einer fast tropischen Luftfeuchtigkeit ist das nur allzu verständlich.

Dass die Autos so alt aussehen in Argentinien und am Straßenrand mehr Rostlauben stehen als in den meisten anderen entwickelten Ländern der Welt, ist aber nicht nur der Wirtschaftslage geschuldet. „Das hat auch noch einen anderen Grund“, sagt VW-Händler Baldassare: „So etwas wie den TÜV kennen wir hier höchstens in der Theorie. Und Kontrollen gibt es eigentlich nicht. Ein Auto, das einmal auf der Straße ist, fährt deshalb bis es auseinander fällt.“ Und das kann manchmal dauern.

Text und Fotos: Benjamin Bessinger/Spot Press Services

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