Es war ein Finale am Sonntag, wie es spannender und dramatischer nicht hätte sein können. Und endlich einmal wurde eine personelle Entscheidung nicht in der Box, nicht am Kommandostand, nicht von Computerzahlen, sondern von fahrerischem Können, von Glück und Wagemut, entschieden. Daraus zu folgern, dass mit Lewis Hamilton, nun ein würdiger Weltmeister auf dem letzten Kilometer dieser Formel-1-Saison auf dem Autodromo Carlos Pace in Brasilien gekürt wurde, ist müßig. Denn sie lässt sich erstens nicht beantworten und zweitens gibt es objektive Beurteilung und Bewertung des Begriffes würdig. Fest steht nur, dass, ähnlich wie die Fußballer des FC Schalke 04 im Jahr 2001, der Brasilianer Felipe Massa als der Weltmeister der Herzen in die Formel-1-Geschichte eingehen wird.
Hamilton hat die besseren Karten, ich würde seinen Titelgewinn respektieren. Felipe aber würde ich ihn gönnen. Auch, weil ich bei Sauber schon gemeinsam mit ihm in einem Team gefahren bin hatte BMW-Pilot Nick Heidfeld in der Woche vor dem letzten Rennen aus seinem Herzen keine Mördergrube gemacht. Schon, dass er von Hamilton und Felipe sprach, deutete an, in welche Richtung das Pendel der Sympathie vor dem großen Showdown ausgeschlagen hatte. Der Südamerikaner Massa gilt als umgänglicher Kumpeltyp im Fahrer- und damit auch im Konkurrentenlager. Lewis Hamilton hingegen ist der wohl behütete gezüchtete Weltmeister aus der Retorte. Respektiert, aber nicht unbedingt auch geliebt.
McLaren-Boss Ron Dennis hat seinen Lieblingsschüler über fast ein ganzes Jahrzehnt hin kontinuierlich aufgebaut. Zum Dank dafür fuhr der junge Mann aus dem Glamour und Glitzer der wohl behüteten Jet-Set-Welt quasi als eine Erfindung seines Ziehvaters Dennis fast folgerichtig zum Titel. Der Brite, erster Formel-1-Champion von der Insel seit Damon Hill 1996, wird respektiert, aber nicht geliebt von den Kollegen. Hamilton hatte es dank der permanenten Unterstützung der Silberpfeile von frühester Jugend an leichter als die meisten anderen Nachwuchspiloten. Er hatte nie irgendwelche finanziellen Probleme, aber er rechtfertigte diese Tatsache immer mit Bravour und mit außergewöhnlicher Leistung. Spätestens in der unterhalb der Formel 1 angesiedelten GP2, die er vor zwei Jahren nach Belieben beherrschte, war klar, dass Hamilton ein außergewöhnliches Talent besitzt. Am Sonntag in Brasilien hat sich Ron Dennis seinen letzten großen Traum erfüllt: den gezüchteten Weltmeister.
Es war der erste WM-Titel für McLaren-Mercedes, die erste Krone seit den Tagen des coolen Finnen Mika Häkkinen. Für das schwänglische Team (Schwäbisch/Englisch) ist der Titel insofern eine besondere Genugtuung, da die einstige Erfolgs-Allianz sich – so hatte es den Anschein – in den vergangenen Jahren und Monaten gegen viele Anfeindungen von außen wehren musste. Seien sie nun berechtigt oder nicht. Nach Spionageaffäre, 100-Millionen-Dollar-Strafe, diversen Interventionen der Rennleitung und Co. ist die Weltmeisterschaft 2008 vielleicht die befriedigendste ihrer Art für die gescholtene und geschundene McLaren-Mercedes-Seele.
Die Erleichterung über die positiven Nachrichten von der Sport-Fraktion wird man vor allem im Hause Mercedes in Zeiten konjunktureller Schieflage gerne hören. Schon beim DTM-Showdown am vergangenen Sonntag in Hockenheim hatte Sportdirektor Norbert Haug nach dem verpassten Titelgewinn des Schotten Paul di Resta von einem eminent wichtigen Wochenende in Brasilien gesprochen. Die Stuttgarter werden sich einige Tage im Glanze des Erfolges sonnen können. Ihre Probleme, und damit die der gesamten Branche, werden damit jedoch nicht behoben sein. Auch ein Weltmeister-Titel kann keine still stehenden Produktionsbänder wieder zum Laufen bringen. Aber was wäre auch ein bisschen viel verlangt. Sogar von Lewis Hamilton.
Text: Jürgen C. Braun / Fotos: Daimler/Mercedes-Benz