Jürgen C. Braun: Mein Tagebuch der Tour de France (1)

Die Tour de France ist ein Phänomen ungeheurer Mobilität. Auf zwei und vier Rädern geht es Jahr für Jahr über Tausende von Kilometern wie an einer mit unglaublicher Präzision gezogenen Richtschnur durch (fast) alle Regionen Frankreichs. Und oft genug auch durch angrenzende Länder hindurch.

Atlantik, Mittelmeer, industrieller Norden, malerisches Loire-Tal mit seinen historischen Schlössern. Wunderbare, pittoreske und immer wieder überraschende Regionen wie das Elsass oder das unvergleichliche Savoyen („la Savoie“), das den Osten der Republik von Italien und der Schweiz trennt. Einzigartige Naturschauspiele in Aquitaine, dem Languedoc und in der von Farben und Düften überbordenden Provence. Und schließlich ist da, das karge Hochgebirge der Pyrenäen. Frankreich hat unendlich viel zu bieten.

Etwa fünftausend Personen gehören zum Tross der „Großen Schleife“, die sich in diesem Jahr zum 108. Mal seit der ersten ihrer Art (1903) durch das Land wälzt. Fahrer, Teams, Organisatoren, Polizisten, Mediziner, Berichterstatter. Dazu ein in die Hunderte gehendes Team für Auf- und Abbau von Absperrungen, Gittern und Pressezentren. Alles in schwindelerregender Höhe. Männer und Frauen, die unzählige Kilometer von Kabel an jedem Tag verlegen und wieder entfernen müssen, um noch in der Nacht auf dem Weg zum nächsten Zielort zu sein. Dass dies alles so reibungslos funktioniert, erstaunt und fasziniert mich jetzt seit mehr als 20 Jahren.

Das ist auch in diesem Jahr nicht anders. Bereits im Oktober eines jeden Jahres wird die genaue Streckenführung für das nächste Jahr bekanntgegeben. Nachdem sie schon mindestens zwei Jahre lange auf dem Papier ausgearbeitet wurde und mit Städten, Kommunen, Befürwortern, Bedenkenträgern und Sponsoren gesprochen wurde. Denn auch die haben ein Recht darauf, sich dort zeigen zu können, wo sie ihre Produkte gerne für gutes Geld am Straßenrand und auf den Bildschirmen präsentieren möchten. Da greift ein Rädchen ins andere, damit am Tag des „grand départ“, wenn der Prolog oder die Auftaktetappe am ersten Tag gestartet wird, keine Fragen mehr offen bleiben und alle Probleme gelöst sind.

Die Richtung, ob mit oder gegen den Uhrzeigersinn, variiert von Jahr zu Jahr. Die Städte, in denen die Ankunft oder der Start einer Etappe anstehen, dürfen nicht zu klein und abgelegen sein. Ganz einfach deshalb, weil ein bestimmtes Equipment und eine notwendige kommunale Infrastruktur benötigt werden, damit „le tour“ an einem Tag wie aus dem Nichts auftauchen und um die Mittagszeit des nächsten Tages wieder verschwinden kann. Viele Kommunen bewerben sich seit Jahren darum, einmal in den Genuss einer solchen Auszeichnung zu kommen. Sie werden entweder erhört oder immer und immer wieder vertröstet und versuchen es doch wieder aufs Neue. Es gibt weltweit kaum eine bessere Visitenkarte als eben diese – Startort oder Zielort der Tour de France zu sein.

Auch für viele verschiedene Automarken ist die Tour ein riesiges Schaufenster. Natürlich in erster Linie für Škoda, einen der Hauptsponsoren. Jahrelang hatte zuvor der Fiat-Konzern, meist mit großen Alfa-Romeo-Limousinen, dieses Privileg. Den Teams aber bleibt freigestellt, welche Marke sie sich als Begleiter mit dem sportlichen Leiter, mit Ersatzrädern, Verpflegung, usw. auf die dreiwöchige Reise mitnehmen. Selbst bei der Wahl des Teambusses, der einem rollenden Nobel-Hotel gleicht, haben sie freie Hand. Nicht oft machen die Beträge, die ein Autohersteller für die dreiwöchige Präsenz an den französischen Straßenrändern oder im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausgibt, einen Großteil des gesamten Budgets aus.

Am ersten von zwei Ruhetagen wurden in Tignes Menschen und Material für die nächsten Etappen bis zur Zieleinfahrt am 18. Juli auf den Champs-Elysées „auf Vordermann“ gebracht.

Fotos: Jürgen C. Braun

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