#Regelecke: Vorzeitiges Spielende – die rote und blaue Karte im Fokus

Nach der gelben Karte und der Zwei-Minuten-Strafe ist es die letzte Stufe der Progression: Die Disqualifikation. Im Regelwerk ist detailliert aufgeführt, für welche Vergehen die Schiedsrichter:innen die rote Karte zeigen können bzw. müssen - von der dritten Zeitstrafe über das unsportliche Verhalten eines Mannschaftsoffiziellen bis hin zu gesundheitsgefährdendem oder grob unsportlichem Verhalten (siehe Auszüge aus dem Regelwerk unter dem Interview). Kay Holm, Schiedsrichter-Lehrwart des Deutschen Handballbundes, betrachtet die Disqualifikation in der aktuellen Folge der #Regelecke jedoch nicht nur aus der Sachlichkeit der regeltechnischen Perspektive, sondern geht auch darauf ein, was das Zeigen einer roten Karte aus mentaler Sicht für die Unparteiischen bedeutet.

Kay, inwiefern muss man als Schiedsrichter erst einmal lernen, die rote Karte zu geben? 

Kay Holm: Die regeltechnischen Grundlagen sind auf jeden Fall leichter zu lernen als die Umsetzung aus mentaler Sicht. Bei der Entscheidung für eine rote Karte schwingt als Schiedsrichter immer das Wissen mit: „Ich nehme jetzt Einfluss auf das Spiel, weil dieser Spieler nicht mehr mitspielen darf.“ Das ist – gerade am Anfang einer Schiedsrichter-Karriere – für den Kopf nicht einfach. Wenn man jedoch einmal den Mut hatte, diese Entscheidung zu treffen, wird es zukünftig leichter, diese Schwelle zu übertreten. 

Was ist das entscheidende Kriterium für eine rote Karte? 

Kay Holm: Bei einer direkten Disqualifikation – für ein Foulspiel – geht es letztendlich um die Frage, ob das Verhalten gesundheitsgefährdend war oder nicht.

Um es noch einmal andersherum zu betrachten: Was macht konkret den Unterschied zu einer Zeitstrafe? 

Kay Holm: Mit einer Zeitstrafe werden unsportliche oder regelwidrige Verhalten geahndet. Um das an einem Beispiel zu verdeutlichen: Ich kann als Schiedsrichter für ein Stoßen in der Luft, nach dem der Spieler auf dem Rücken landet, nicht nur eine Zeitstrafe geben, denn diese Aktion ist gesundheitsgefährdend. Ich muss als Schiedsrichter ein Gespür entwickeln, wann ich auf welche Bestrafung zurückgreife. Und irgendwann macht es Klick, sodass ich in der Situation weiß: Das Foul ist schlimmer als die Aktion, die ich vorher mit einer Zeitstrafe geahndet habe. Habe ich diesen Maßstab gefunden, muss ich meine Entscheidungen konsequent durchsetzen – auch, wenn es unpopulär sein sollte und unabhängig davon, ob ich die Heim- oder Gastmannschaft bestrafe. 

In welcher Situation fällt es erfahrungsgemäß besonders schwer, eine rote Karte zu geben? 

Kay Holm: Bei einer roten Karte zu Spielbeginn, nach wenigen Sekunden oder Minuten, gibt es oft eine mentale Sperre. Das ist sicherlich ein Punkt, der nicht einfach ist und oft diskutiert wird. Dennoch gilt das Regelwerk auch schon in der ersten Minute – und der Schiedsrichter kann davon profitieren, wenn er bereits so früh konsequent durchgreift.  

Inwiefern? 

Kay Holm: Begeht ein Spieler in der zweiten Spielminute ein rotwürdiges Foul und der Schiedsrichter greift konsequent durch, wird er es im weiteren Spielverlauf viel, viel leichter haben, weil er als durchsetzungsstark wahrgenommen wird. Das Durchsetzungsvermögen ist natürlich ein ganz wichtiger Aspekt. Außerdem wird sich durch die Konsequenz wahrscheinlich ein weniger hartes Spiel entwickeln als das ohne die Disqualifikation eventuell der Fall gewesen wäre. 

Worauf kommt es bei der Entscheidung für eine rote Karte noch an? 

Kay Holm: Berechenbarkeit. Wenn man als Schiedsrichter unterschiedliche Entscheidungen für die gleichen bzw. vergleichbare Vergehen trifft, ist man nicht berechenbar – das wird oftmals von den Mannschaften und Trainern als Kritik genannt. Wenn ich hingegen auf beiden Seiten die gleichen Entscheidungen treffe, können alle eher damit leben – auch, wenn die Entscheidung an sich eigentlich vielleicht nicht optimal ist. 

Lass uns noch kurz auf die blaue Karte zu sprechen kommen…

Kay Holm: Die blaue Karte ist aus unserer Sicht zunächst ein Signal. Sie zeigt an, dass es zusätzlich zur Disqualifikation einen Bericht gibt – und diese Disqualifikation damit mindestens ein Spiel Sperre nach sich zieht. 

Kannst du ein Kriterium nennen, was den Unterschied zwischen einem rot- und einem blauwürdigen Foul ausmacht? 

Kay Holm: Die Absicht und Rücksichtslosigkeit. Die rote Karte, das hatte ich eingangs gesagt, gibt es für gesundheitsgefährdenden Fouls – wenn diese unabsichtlich geschehen. Sobald ich als Schiedsrichter eine Aktion als Absicht und besonders rücksichtslos bewerte, muss ich die blaue Karte geben. Meistens handelt es sich dabei um insbesondere ballferne Aktionen – beispielsweise der Ellenbogenstoß am Kreis. oder ähnliches ebenso mit der blauen Karte zu sanktionieren.

Die blaue Karte wurde 2016 eingeführt. Wie hat sie sich aus deiner Sicht bewährt`

Kay Holm: Gefühlt gibt es seit einigen Jahren weniger solche Aktionen, aber das hat aus meiner Sicht nichts mit der Regel der blauen Karte als solcher zu tun. Es liegt vielmehr an den Spielertypen und der Art, wie sie Handball spielen wollen und der konsequenten Ahndung harter Aktionen durch die Schiedsrichter:innen. Es gab früher sicherlich deftige Spielertypen, die sehr, sehr hart und unfair gespielt haben, aber das ist inzwischen nicht mehr an der Tagesordnung.

Sechs Jahre zuvor, 2010, wurde die Unterscheidung zwischen der roten Karte mit und ohne Bericht eingeführt – und dafür der Ausschluss mit dem inzwischen fast legendären Handzeichen der gekreuzten Arme abgeschafft. Hältst du diesen Schritt rückblickend für richtig? 

Kay Holm: Ja, denn diese Entscheidung sorgt für mehr Gerechtigkeit. Es war ungerecht, wenn eine Mannschaft die verbleibende Spielzeit komplett in Unterzahl spielen musste, obwohl ein einzelner Spieler seine Nerven nicht im Griff hatte. Denn das war ja die Konsequenz: Es durfte, anders als heutzutage, nicht mehr aufgefüllt werden – das war ein immenser Eingriff in das Spiel. Und als junger Schiedsrichter hast du sehr genau überlegt, ob du dir den Rest der Spielzeit das Gezeter von der Bank und den Zuschauern wirklich antun willst oder lieber – trotz der Schwere des Fouls – auf den Ausschluss verzichtest. Heute ist das viel, viel gerechter – mit den zwei Minuten Unterzahl können alle leben und die Sperre muss der Spieler zwar gegenüber seiner Mannschaft vertreten, aber es verzerrt nicht das Spielgeschehen, weil ein Team dauerhaft in Unterzahl ist. 

Kommen wir zurück zur roten Karte: In welchen Situationen wird am häufigsten fälschlicherweise rot gefordert? 

Kay Holm: In den letzten 30 Sekunden wird oft eine rote Karte mit der Begründung gefordert, dass es die letzten 30 Sekunden seien. Das spielt aber keine Rolle, wenn es sich um ein normales Zeitstrafenfoul, ein Abstandsvergehen ohne Kontakt zum Gegenspieler oder das normale Klammern aus dem Spiel heraus handelt. Auch der Gesichtstreffer ist oft ein Streitpunkt. Auch, wenn die Hand im Gesicht ist, gibt es nur die rote Karte, wenn es gesundheitsgefährdend ist. Diese von unabsichtlichen Backpfeifen beim Wackler oder beim Griff zum Ball zu unterscheiden, führt immer wieder zu Diskussionen. 

Du hast vorhin gesagt, es wäre wichtig, ein Gespür zu entwickeln. Wie schwierig ist es denn, für sich als Schiedsrichter die Linie zwischen einer Zeitstrafe und einer roten Karte zu finden? 

Kay Holm: Das ist Erfahrung, denn Schiedsrichter brauchen Bilder, damit sich etwas verfestigt. Im Laufe der Zeit hast du als Schiedsrichter immer mehr Bilder vor Augen, weil du die Situationen selber gepfiffen oder dich im Videostudium damit beschäftigt hast. So entwickelt sich das Gespür über die Zeit automatisch, wenn man bereits ist, sich mit der Schiedsrichterei auseinanderzusetzen. 


Auf handball-world.news präsentiert die KÜS unter dem Namen #Regelecke knifflige Fragen zum Schiedsrichterregelwerk. Der Beitrag ist bereits auf dem Portal handball-world.news erschienen.

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