Tradition: 50 Jahre Mercedes-Benz S-Klasse

Dieser Motor war aus der Zukunft gefallen: Auf der IAA 1969 überraschte Mercedes mit einem mächtigen 3,5-Liter-V8, der eigentlich erst in der S-Klasse des folgenden Jahrzehnts für Furore sorgen sollte. Stattdessen beschleunigte der Zifferncode 3.5 bereits die altgediente Sonderklasse W108/109 an die Spitze des europäischen Luxussegments.

Es war ein V8, der Deutschlands prominentesten Bahnfahrer zum gelegentlichen Umstieg in den Fond eines Dienstwagens bewegte. Willy Brandt wurde 1969 als erster SPD-Politiker zum deutschen Bundeskanzler gewählt und bevorzugte eigentlich Reisen auf der Schiene. Musste es aber doch einmal die Straße sein, stand passgenau zu seinem Amtsantritt der ebenfalls vor 50 Jahren eingeführte Mercedes 300 SEL 3.5 (W109) bereit mit neu entwickeltem 147 kW/200 PS starkem 3,5-Liter-V8 unter der Haube. Was im gerade erneuerten automobilen Wettbewerbsumfeld von BMW 2800, Jaguar XJ oder Opel Diplomat als kapitale Kampfansage des Sterns galt, wirkte vor dem Kanzleramt fast wie ein V8 der Bescheidenheit. Schließlich gab es die schwäbische Sonderklasse längst mit gigantischen 6,3 Liter Hubraum und titanischer Muskelmasse. Trotzdem gewann auch der Typencode 3.5 auf dem Kofferraumdeckel Kultstatus, ganz besonders in Kombination mit optionalen, markanten Halogen-Doppelscheinwerfer für mehr Überholprestige der über 200 km/h schnellen Luxuslimousinen.

Wer elitärere Eleganz bevorzugte, konnte den 3,5-Liter-V8 auch in den exorbitant teuren zweitürigen Coupés und Cabriolets der Serie W111 ordern. V8-Vehemenz im Spardress bot dagegen das ab 1971 lieferbare Limousinen-Duo aus 280 SE 3.5 und 280 SEL 3.5, das sogar die dynamischen Newcomer BMW 3.0 Si bis 3.3 Li auf die Plätze verwies. Schließlich war der moderne Einspritz-V8 mit Stern ursprünglich gar nicht für die betagten S-Klasse-Typen aus der Wirtschaftswunderzeit vorgesehen, sondern für die mächtigen Chromkreuzer der 1970er Jahre, also Mercedes SL (R107) und Mercedes SE (W116).

Während die Amerikaner längst aus dem Vollen schöpften und hubraumgewaltige V8 besser verkauften als effiziente Vierzylinder, haftete Achtzylinder-Limousinen in Europa bis Ende der 1960er Jahre der Ruf von Maßlosigkeit und feudaler Opulenz an. Die frühen deutschen V8 in BMW 502 oder Glas 3000 V8 waren eher glücklos und Opel vertraute in seinen Flaggschiffen konsequent auf amerikanische V8-Power des GM-Mutterkonzerns. Allein europäische Supersportwagen und die höchste Repräsentationsliga von Rolls-Royce oder Mercedes 600 reüssierten bereits mit mächtigen Achtendern. Vielleicht waren es Mittelklasselimousinen á la Opel Commodore GS oder BMW 2000 tii mit Fahrwerten, die sonst nur Sportwagen zugetraut wurden, vielleicht aber auch rekordverdächtige schnelle Big-Block-Überflieger wie der Mercedes 300 SEL 6.3: Jedenfalls wurde der V8 auf der Frankfurter Autoschau 1969 als konventionelle Alternative zum futuristischen Wankelmotor gefeiert. Dieser demonstrierte damals gerade im spektakulären Mercedes C111 und in Mazda Coupés seine Vmax-Qualitäten. Tatsächlich bewegten sich die Mercedes S-Klasse-Limousinen W109 und die Coupés sowie Cabriolets W111 mit 3,5-Liter-V8 zwischen gestern und morgen.

Von gestern waren die 1965 bzw. 1962 eingeführten Karosserien, von morgen das Hubkolbenkraftwerk M116, das auf den legendären Motorenkonstrukteur Adolf Wente zurückgeht. Der hatte bereits den ersten V8-Einspritzer der Marke für den Mercedes 600 entwickelt. Jetzt verfügte der M116 als zweiter Mercedes-Motor über die damals noch ungewöhnliche elektronische Benzineinspritzung, die allerdings ähnlich wie beim VW 1600 E in der Anfangszeit nicht von Defekten verschont blieb. Trotzdem waren die Kunden zufrieden, denn Mercedes regulierte Schäden kulant und so überwog die Begeisterung über den seidenweichen Lauf und das eindrucksvolle Drehvermögen des als extremen Kurzhuber konzipierten V8. In der Art der Leistungsentfaltung konnte sich der V8 mit Dreischeiben-Kreiskolbenmotoren durchaus messen und die Verbrauchswerte von 13,5 Liter nach DIN-Norm und bis 21 Liter bei flotter Autobahnfahrt galten damals als angemessen. Ähnlich konsumfreudig verhielt sich übrigens auch die zweite Frankfurter-V8-Messenovität für den deutschen Markt: Rover versuchte mit der Limousine 3,5 Litre V8 und einem fast baugleichen viertürigen Coupé zumindest einige wenige anglophile Mercedes-Käufer zu ködern.

Eine vor 50 Jahren noch völlig neue Herausforderung für Motorenkonstrukteure waren erste in Amerika und Japan eingeführte Luftreinhaltegesetze, die reduzierte Emissionen verlangten und als unerwünschte Nebenfolge Leistungsverluste bewirkten. Mercedes reagierte darauf mit dem auf 4,5 Liter vergrößerten V8-Motor 117, der ansonsten ein zweieiiger Zwilling des M116 war. Mit derart viel Hubraum, vorläufig nur auf dem nordamerikanischen Markt eingesetzt, lieferte der Motortyp 117 genügend Kraft (exakt 146 kW/198 PS) für die schon 1962 bzw. 1965 eingeführten Mercedes SE-Coupés und Limousinen, um gegen die jüngsten Jahrgänge von Cadillac oder Lincoln zu bestehen. In Hollywood oder auf der 5th Avenue waren Mercedes 300 SEL mit Kennung 4.5 vorübergehend populäreres Statussymbol als Rolls-Royce Silver Shadow. Was auch an der serienmäßigen Luftfederung des SEL und dem brandneuen Automatikgetriebe mit hydraulischem Drehmomentwandler lag, den Mercedes hier zum allerersten Mal montierte. Letztlich überzeugte der SEL 4.5 die US-Kunden so sehr, dass sie den Verzicht auf den überstarken 6.3 verschmerzen konnten, dessen Amerika-Vertrieb den Emissionsgesetzen zum Opfer fiel.

Weltweit richtig durchstarten konnte das Doppel aus M116 und M117 dann in den 1970er Jahren, denn jetzt beschleunigten die Aggregate die S-Klasse Baureihe 116 (350 SE und 450 SE) sowie die Roadster und Coupés 350 SL/SLC und 450 SL/SLC (Baureihen R/C107) auf die jeweiligen Pole Positions in den europäischen V8-Verkaufscharts. Statt des Wankelmotors, der zumindest für den SL (R107) diskutiert wurde, gab es die Kraft des V8.

Zunächst jedoch war es 1969 die chromglänzende Kommazahl „3.5“ am Wagenheck, die Hinterherfahrenden signalisierte: Hier fährt kein 300-SEL- oder 280-SE-Sechszylinder, sondern die motorische V8-Zukunft der Oberklasse. Vorausgesetzt, der V8-Käufer verzichtete nicht gänzlich auf einen Typenschriftzug. Verpackt in unaufdringlich elegante Formen und bei den Coupés gekrönt von filigranen Dachpavillons, so definierten die vom französischen Kultstilist Paul Bracq designten Prestigemodelle einen äußerlich dezenten Luxus, wie er sogar nach der gesellschaftlich-politischen Revolution von 1968 weiter geschätzt wurde.

Nicht einmal der 1969 erneuerte Opel Diplomat V8 mit De-Dion-Achse konnte sich mit den V8-Sternenträgern messen, die dennoch Volvo, Peugeot und Renault animierten, an der Entwicklung eines Euro-V8 für ihre kommenden Flaggschiffmodelle festzuhalten. Dass daraus unter dem Eindruck der ersten Ölkrise ein auf sechs Zylinder gekürztes Aggregat hervorging, ist ein anderes Kapitel. Auch BMW und Jaguar wurden durch Mercedes animiert, über Achtzylinder nachzudenken – und die Engländer übertrafen dieses Maß mit einem V12. Mercedes jedoch spielte seit der V8-Implentierung in die Limousinen und Coupés der Baureihen (W108/109/111) fast schon in einer eigenen Klasse – weshalb die Ende 1972 nachfolgende Serie 116 erstmals explizit S-Klasse genannt wurde.

Fotos: Daimler

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