Liebe Leserin!
Lieber Leser!

Ist es Erstaunen, Verwunderung, Unverständnis oder manchmal auch ein wenig der neidische Seitenblick, den ich in vielen Fällen zu erkennen glaube? Oft werde ich von Bekannten, Nachbarn oder wem auch immer darauf angesprochen, wenn ich mal wieder in ein Fahrzeug steige, das erstens krachneu aussieht und an dessen Kennzeichen man unschwer erkennen kann: Bei uns ist die Karre nicht zugelassen. In der Regel folgt darauf die rhetorische Feststellung: „Du fährst alle Nas‘ lang ein anderes Auto. Und von hier sind die auch nicht.“ Worauf sich unweigerlich die Frage anschließt: „Wie geht sowas?“

Dergestalt herausgefordert, versuche ich, den Spagat zu verdeutlichen, den ich seit Jahrzehnten bewältige: Den zwischen den Interessen der Industrie, deren Presseabteilungen darauf erpicht sind, dass ihre Produkte wahrgenommen und dass über sie berichtet wird. Und den zwischen dem journalistischen Auftrag, dem sich unser Berufsstand stellt: wertfrei, ungebunden, verbraucherorientiert zu urteilen. Mit einer Melange aus Sachverstand, technischen und wirtschaftlichen Detail-Informationen. Und mit Emotionen, die den Unterschied zwischen Testbericht sowie individuellen Eindrücken und Empfindungen ausmachen. Das, was man den persönlichen Stil nennt.

In der Regel geben die Kollegen aus den Presseabteilungen uns zu diesem Zweck Produktinformationen in Wort und Bild zu dem betreffenden Fahrzeug mit: technische Daten, Unterschiede zum Vorgängermodell, avisierte Zielgruppe und dergleichen mehr. Vor kurzem erhielt ich ein Fahrzeug eines Herstellers, der in der Regel sogenannte „Brot-und-Butter-Autos“ baut. Also Fahrzeuge für den sogenannten Durchschnittsverbraucher. Zwar mit allerlei Optionen nach persönlichen Vorstellungen zu gestalten aber nichts Aufregendes.

Umso mehr hat es mich erstens erstaunt und zweitens auch so richtig „gefuchst“, dass im beiliegenden digitalen Press-Kit, also den Unterlagen für die Journaille, lang und breit über die „Konnektivität“ das Fahrzeuges, seine Vernetzung mit der Umwelt, über Smartphone-Anbindungen, um Kopplungen mit IT-Netzwerken und Kartenanbietern berichtet wurde. Und darüber, dass es irgendwo im Off mittels Bluetooth-Schnittstelle wohl eine Dame gab, die mir auf meinen Wunsch hin problemlos mitteilen könnte, wie weit es bis zur nächsten Trattoria mit „Tagliolini al tartufo di Norcia“ wäre und ob die auch heute geöffnet hätte. Vorausgesetzt natürlich, ich verschmähte den nächsten McDrive.

Was ich erst nach investigativer Recherche auf dem USB-Stick der Presseabteilung fand, waren Angaben, die man eigentlich für die Berichterstattung über ein Automobil benötigt. Motorleistung, Verbrauchsdaten, Maße, Gewichte und dergleichen nützliche Dinge mehr. Hat sich, so frage ich, die Welt so sehr verändert, dass es für den Endverbraucher und dessen Kaufentscheidung in erster Linie von fundamentaler Bedeutung ist, ob und wie er mit seinem fahrbaren Untersatz in der digitalen Welt zu Hause ist?

In diesem Moment fiel mir Ilse Roderer ein. Frau Roderer, eine sehr korrekte aber auch hilfsbereite resolute Dame, war in den 1970er und 1980er Jahren Herrin über die Testautos von Opel. Wenn man bei ihr ein Fahrzeug abholte, war das mit einem netten Schwätzchen verbunden, worauf man dann noch ein paar Seiten Papier und zwei, drei Schwarz-Weiß-Fotos in die Hand gedrückt bekam. „Da steht alles drauf, was Sie wissen müssen.“

Recht hatten Sie, Frau Roderer! Damals zumindest.

Ich wünsche Ihnen ein angenehmes Wochenende.

Ihr Jürgen C. Braun

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