Ein Auto als Namensgeber für ein ganzes Segment

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Sie sind flinke Fahrzeuge, die auf Airports Flugzeugen den Weg weisen. Unerlässliches Utensil dabei ist ein „Follow-Me“-Schild auf dem Dach. Eine Signalisation, die der seit sieben Generationen gebaute Volkswagen Golf längst nicht mehr benötigt, um seiner Klasse die Richtung zu weisen. Ist er doch nicht nur das weltweit meistgebaute fünftürige Kompaktklassemodell aller Zeiten, sondern auch Maßstab und sogar Namensgeber seines Segments.

Bis es soweit war, musste sich der von Giorgetto Giugiaro in gleichermaßen gefälliger wie unverwechselbarer Form gestaltete Ur-Golf allerdings erst einmal durchsetzen. Im Jahr 1974 bedeutete dies: Den Volkswagenkonzern aus einer existenziellen Unternehmenskrise beschleunigen, die Folgen der ersten Ölkrise vergessen machen und mehr als 20 etablierte Volksfahrzeuge des Wettbewerbs auf die Plätze verweisen. Das alles in Rekordzeit, denn schon 1975 wurde Bilanz gezogen. Gelang es dem Golf so rasch, seine anfänglichen Qualitätsdefizite abzulegen und Presse wie Publikum für sich zu gewinnen?

Tatsächlich verblüffte der neue VW in ersten Vergleichstests der Fachpresse eher durch Niederlagen oder Mittelmäßigkeit anstatt die heute gewohnte Rolle des Triumphators zu besetzen. So konnte der Golf nicht einmal gegen den genauso konzipierten, aber eine Klasse kleineren Audi 50 (den Vater des VW Polo) einen Punktsieg im Test landen. Stattdessen triumphierte der Audi-Mini dank seiner ausgewogenen Talente und ausgereifter wirkenden Qualität. Tatsächlich wünschte sich in einer 1975 durchgeführten Befragung von mehreren Tausend Fahrern früher Golf mehr als die Hälfte der Beteiligten eine bessere Verarbeitungsqualität des VW. Rund 75 Prozent dieser Golf-Käufer klagten über Klappergeräusche und fast jeder Zweite musste seinen Golf außerplanmäßig in die Werkstatt bringen. Dennoch wollten nur sieben Prozent der Befragten künftig ein anderes Auto fahren. Das Layout des Golf war also grundsätzlich bereits goldrichtig, wie zudem kontinuierlich steigende Verkaufszahlen belegten.

So überzeugte die Wolfsburger Avantgarde aus italienischem Design, variablem Gepäckraum, großer Heckklappe, Vorderradantrieb und raumsparendem Quermotor sogar die als konservativ geltenden Käfer-Fahrer und ließ die Verkaufszahlen des Krabbeltiers schlagartig einbrechen. Tatsächlich machte der Golf fast allen größeren Käfer-Typen bereits Mitte 1975 den Garaus – womit nicht einmal Fachleute gerechnet hatten. Allerdings hatte der neue Wolfsburger Kompaktstar zu diesem Zeitpunkt bereits Feinschliff und Programmergänzungen erfahren.

Vielleicht auch, weil das Abschneiden des Golf in ersten Vergleichstests gegen die versammelte europäische Konkurrenz eher frustrierend ausfiel. So musste sich der moderne Käfer-Erbe etwa mit einem dritten Platz zufrieden geben, hinter dem siegreichen, aber korrosionsanfälligen Alfasud, dem es ebenso wie dem bereits vier Jahre alten Citroën GS (Platz 2) an einer Heckklappe fehlte. Abgeschlagen waren nur der Kadett C mit konventionellem Antriebslayout, der angejahrte Simca 1100 (als einziger ebenfalls fünftürig) und der Fiat 128 mit Stufenheck. Ein Resultat, das das Abheben des Golf auf Bestsellerumlaufbahn aber letztlich ebenso wenig beeinflusste, wie etwaige Qualitätsdefizite. So das für VW beruhigende Fazit nach dem ersten Jahr Golf, ermöglichte VW bei Mängeln doch leichter Abhilfe als viele Wettbewerber – nicht zuletzt dank des konkurrenzlos großen Service- und Vertriebsnetzes.

Spätestens mit Einführung der Dieselmotorisierung galt der Golf ohnehin als Langstreckenläufer, der dem Käfer und dessen „und läuft und läuft und läuft“-Slogan in nichts nachstand. Vor allem aber veranlasste der Golf ab 1975 immer mehr Konzerne, sein Konzept zu adaptieren. Sei es bei General Motors, wo Opel Kadett und Vauxhall Chevette eilig in Versionen mit Schrägheck und großer Klappe eingeführt wurden. Oder bei Fiat, wo hektisch aus dem 128 Sport Coupé ein dreitüriges Kombi-Coupé namens 128 3p Berlinetta gezaubert wurde und obendrein das fünftürige jugoslawische Zastava-Derivat des Fiat 128 auf westeuropäischen Exportmärkten lanciert wurde.

Alfasud und Citroën GS und sogar der als kürzester Viertürer Europas beworbene Peugeot 104 erhielten nachträglich eine Heckklappe spendiert, Toyota führte den bis dahin erzkonservativ konstruierten Corolla als stylisch-sportiven Corolla Liftback ein und sogar Volvo kaufte sich durch Übernahme von Daf in die Kompaktklasse mit Klappe ein. Schließlich war es ein Leichtes, den schon fast serienreifen designierten Daf 77 zum Volvo 343 zu transformieren.

Auf den Punkt brachten es führende deutsche Automanager anlässlich der IAA 1975: „Der Erfolg des Golf hat uns total überrascht!“ Einen ersten Eindruck seiner Durchschlagskraft gab der Kompakte schon im Oktober des Vorjahres, als vom Golf auf dem Heimatmarkt mehr Einheiten verkauften wurden, als von der gesamten Opel-Palette zusammen. Dabei war etwa der Opel Kadett gerade ein Jahr jung. Für Volkswagens Erz-Rivalen Anlass, die Einführung des dreitürigen City-Kadett zu beschleunigen. Nicht weniger verstört waren alle anderen europäischen Marktgrößen, deren Manager auf dem Frankfurter Autosalon 1975 definitiv „neue Dimensionen des Wettbewerbs“ konstatierten.

Die bisherige untere Mittelklasse war untergegangen, die neue Kompakt- bzw. Golf-Klasse tonangebend im Autogeschäft. Wie weit die Vorbildfunktion des Golf nun reichte, demonstrierte anschaulich der polnische Volksauto-Produzent FSO. Verpassten die Osteuropa doch ihrer altgedienten Fiat-Lizenz FSO 125p zuerst eine schicke Schrägheckkarosserie und danach eine weit aufschwingende Ladeluke – fertig war der Polonez als Preisbrecher auf vielen westlichen Märkten. In Frankreich wiederum platzierte Fastback-Trendsetter-Renault (mit dem R16 in der Mittelklasse schon seit 1965) den R14 im Jahr 1976 als fünftürige Alternative zum Stufenhecktypen R12. Und die zum Chrysler-Konzern gehörende Marke Simca präsentierte den Horizon als Nachfolger des seit zehn Jahren gefertigten Schrägheckpioniers 1100. Tatsächlich wurde auch der Horizon ein Multi-Millionenerfolg, dies aber vor allem dank der US-Marken Dodge und Plymouth.

Ausgerechnet aus Nordamerika allerdings konnte der Golf zu keiner Zeit Rekordzahlen nach Wolfsburg vermelden. Nicht einmal ein in den USA errichtetes Werk änderte dies, der Golf gefiel den Amerikanern nur als Jetta mit angehängtem Rucksack wirklich gut. Dabei musste es in der Neuen Welt sonst nicht zwingend ein Stufenheck sein, wie schon 1972 – also zwei Jahre vor dem Golf – die Japaner bewiesen. Als automobiler Weltbürger eroberte damals der Honda Civic auch die USA. Der Civic setzte als erster japanischer Kompakter auf Heckklappe, variables Ladeabteil und Frontantrieb – und wurde so härtester globaler Konkurrent für den Golf. Rund 20 Millionen Einheiten wurden vom Civic in neun Generationen bis heute gefertigt. Eindrucksvoll, doch für den Golf nicht gut genug. Er durchbrach 2013 bereits die 30-Millionen-Schallmauer und unterstrich so nachdrücklich seine Funktion als Vorbild und Namensgeber für seine Volksautoklasse.

Text: Spot Press Services/Wolfram Nickel
Fotos: Hersteller/SP-X

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