Liebe Leserin!
Lieber Leser!

In den frühen 1990er Jahren hatten wir zu Hause des Öfteren mal Besuch von einer schon damals recht betagten Dame aus Thüringen, ganz in der Nähe der Geburtsstadt meiner Mutter im Eichsfeld. Es war die Zeit, als die DDR entweder noch im Begriffe war, sich aufzulösen, oder diesen Prozess (zumindest de da facto) schon hinter sich gebracht hatte. Was „Tante Thea“, so wurde sie mir damals vorgestellt, bei ihrem ersten Besuch schier die Sprache verschlug, war die Fülle an verschiedenen Autos, die es auf westdeutschen Straßen nicht nur zu sehen, sondern auch durchaus zu kaufen und damit zu fahren gab. Kein Wunder, kannte sie doch von den sozialistischen Schlaglochpisten und (ganz selten) auch einmal von den Transitstrecken jenseits des „Eisernen Vorhangs“ nur ein einziges Modell: Den Trabant 601. Die „Pappe“ war schlechthin das rollende Symbol dessen, was die Werktätigen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zu leisten vermochten.

Wer sich ein wenig für die Geschichte des Automobils interessiert, und das ist sicherlich bei vielen von Ihnen der Fall, der wird in diesem Jahr jede Menge an neuer Literatur, an Quellen, an Anekdoten, an persönlichen Erlebnissen mit dem knatternden Plaste-Auto, das als „Trabi“ in den Sprachgebrauch einging, erhalten. Denn der Trabant 601, der von 1964 bis 1990 in Zwickau vom Band lief, wird in diesem Jahre 50 Jahre alt. In regelmäßiger Abfolge melden die Verlage Neuerscheinungen, die Fernseh- und Hörfunksender kündigen Sendungen zum Thema an.

Für den von den Segnungen des Kapitalismus hierzulande „schutzlos getroffenen“ Westbürger wurde das Wägelchen mit dem Zweizylinder-Zweitaktmotor nicht nur zum Inbegriff der persönlichen Mobilität im Arbeiter- und Bauernstaat. Es mutierte auch zur Zielscheibe des Spotts und mitunter ziemlich dümmlicher Witzeleien. Knapp 25 Jahre nach dem Mauerfall, ist die oft nicht enden wollende Karawane von Trabant 601 in den vermeintlich „Goldenen“ Westen das Bild, das sich bis heute als einprägsamste Erinnerung an jene historischen Tage in den Köpfen bewahrt hat.

Tante Thea, von der ich anfangs sprach, hatte zwar niemals in ihrem Leben ein Auto gefahren, geschweige denn eines selbst besessen. Aber sie hatte eine wunderbare Gabe: Sie konnte wahnsinnig gut und spannend erzählen von Dingen, die für sie nichts weiter waren als die tägliche Auseinandersetzung mit den Erzeugnissen der volkseigenen Betriebe oder den landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften. Zur Bewältigung und zur Verwaltung des real existierenden Mangels gehörte der „Trabi“ einfach dazu. Nicht, dass sie das Fahrzeug irgendwie in den Heldenstatus gehoben oder – Gott bewahre – etwa verdammt hätte: Es klang völlig nüchtern, aber eben auch sehr realistisch, wenn sie vom ganz normalen Alltags-Wahnsinn der DDR-Bürger erzählte, zu dem dieses Fahrzeug irgendwie dazu gehörte.

Ihr jüngerer Bruder, den ich übrigens nie kennen gelernt habe, war schon früh, irgendwann in den 1960er Jahren, nach Kanada ausgewandert. Er muss ein technisch beschlagener junger Mann gewesen sein damals, und als Tante Thea dann endlich in den Westen reisen durfte, habe ich für sie eine Reise zu „Deinem Onkel Heinz“, so nannte sie ihn mir gegenüber, organisiert. Der erste Flug ihres damals schon recht langen Lebens führte sie nach Vancouver. Ich brachte sie nach Frankfurt zum Flughafen. Ein paar Monate später schrieb sie mir einen überschwänglichen Dankesbrief und erwähnte darin auch, dass „hier bei uns in Kanada die Autos viel größer sind als bei Euch!“ Nun gut, richtige Pick-Ups wie im kanadischen Westen waren damals hierzulande recht selten. Und ich habe Tante Thea das alles gegönnt.
Wieder gesehen habe ich sie übrigens nie mehr. Sie war, wie gesagt, schon in den frühen 1990ern recht betagt.

Ich wünsche Ihnen ein angenehmes Wochenende.

Ihr Jürgen C. Braun

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