Buchtipp der Woche

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Charles Dickens: Große Erwartungen. Hanser Verlag; 34,90 Euro.

200. Geburtstag am 07. Februar 2012

»Bist du wohl still!«, rief eine furchterregende Stimme,und ein Mann sprang zwischen den Gräbern neben demKirchenportal hervor. »Sei still, du Satansbraten, oder ichschlitz dir die Kehle auf!«Ein schrecklicher Mann, ganz in groben grauen Stoffgekleidet und mit einem großen Eisen am Bein. Ein Mannohne Hut, in aufgerissenen Schuhen und mit einem altenLumpen um den Kopf. Ein Mann, von Wasser durchweichtund von Schlamm erstickt, an den Steinen lahmund blutig geschlagen, von Nesseln verbrannt und vonDornen zerkratzt, hinkend und zitternd, ein Mann, dermich finster beäugte und knurrte und der mit den Zähnenklapperte, als er mich am Kinn fasste.»O Sir, schlitzen Sie mir nicht die Kehle auf«, bettelteich in Todesangst. »Tun Sie es bitte nicht, Sir!«»Sag deinen Namen«, sagte der Mann. »Wird’s bald!«»Pip, Sir.«

»Noch mal«, sagte der Mann und starrte mich an. »Rausdamit!«»Pip. Pip, Sir.«»Zeig jetzt, wo du wohnst«, sagte der Mann. »Peil dieStelle an!«Ich deutete in die Richtung, wo unser Dorf eine Meileoder weiter von der Kirche entfernt zwischen Erlen undgekappten Weiden auf dem flachen Küstenland lag.Nachdem er mich eingehend betrachtet hatte, hielt derMann mich an den Füßen in der Luft und leerte meine Taschenaus. Sie enthielten nur ein Stück Brot. Als die Kirchewieder ins Lot kam – er war so stark und hatte mich soschnell auf den Kopf gestellt, dass ich den Kirchturm zwischenmeinen Beinen erblickte –, als die Kirche also wiederins Lot kam, saß ich zitternd auf einem hohen Grabstein,während der Mann gierig mein Brot verschlang.»Du Hundesohn«, sagte er und leckte sich die Lippen,»was hast du nur für dicke Backen!«Wahrscheinlich waren sie dick, obwohl ich damals fürmein Alter klein und schwächlich war.

Charles Dickens, dessen Geburtstag sich jetzt zum 200. Mal jährt, wird heute überwiegend als Kinderbuchautor wahrgenommen, man erinnert sich an ihn als den Schöpfer von Oliver Twist und David Copperfield. Tatsächlich aber, und das zeigt diese Neuübersetzung besonders gut, war er weit mehr – nicht nur ein Erzähler schwieriger Kinderschicksale, sondern ein Chronist eines brutalen Kontrasts zwischen reich und arm, zwischen oben und unten. Kein plakativer Sozial(un)romantiker, sondern ein unerschrockener Autor mit offenen Augen und Ohren. Und wer wollte ernsthaft behaupten, dass Dickens' zentrale Themen heute nicht mehr aktuell seien? Nicht zuletzt muss hervorgehoben werden, dass der Autor, der sich auch persönlich für die Menschen stark machte, deren Lebenswirklichkeit er beschrieb, doch wohl immer an das Gute im Menschen glaubte. Auch diesem Grundsatz fehlt es nicht an Aktualität.

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