Europa in den Zwanziger Jahren: Der Krieg ist vergessen, mit der Wirtschaft geht es bergauf und auch die Rennfahrer geben wieder Gas. Auf Strecken wie dem Oval von Brooklands ringen sie um Bestzeiten, und auf den wenigen langen geraden Straßen in Europa fällt ein Weltrekord nach dem anderen. So auch am 12. Juli 1924 im Herzen Frankreichs. Da schießt der Brite Ernest Eldridge bei Arpajon mit 234,980 km/h über die Route d’Orleans und darf seinen Wagen fortan das schnellste Auto der Welt nennen.
Dafür hat er den Fiat SB4 von 1908 allerdings gründlich umgebaut. Weil Hubraum durch nichts zu ersetzen ist, außer durch noch mehr Hubraum, flog der selbst schon respektable zehn Liter große und 150 PS starke Vierzylinder auf den Schrott. Stattdessen montierte Eldridge unter der gestreckten Haube ganz im Geist der damaligen Zeit einen 320 PS starken Flugzeug-Motor, der perfekt zum Auto passte. Denn auch der Sechszylinder mit sage und schreibe 21 Litern Hubraum stammt aus Turin und wurde von Fiat eigentlich für Kampfbomber gebaut.
Der Rote Riese machte bei seiner Rekordfahrt allerdings solch ein höllisches Spektakel, dass er über Nacht seinen Namen weg hatte: „Mefistofele“, den Teuflischen, nannten die Zuschauer das Gefährt, das beim Anlassen in einer beißenden Rauchwolke verschwand, lauter war als der Kanonendonner in der Schlacht an der Marne und aus dem Auspuff bisweilen meterlange Flammen spie.
Heute, 87 Jahre später, steht Dazia Gianfranco vor der Höllenmaschine und kommt langsam ins Schwitzen. Denn einen Anlasser sucht man im kargen Cockpit vergebens. Stattdessen kämpft der Experte aus der historischen Fiat-Werkstatt in Turin mit einem meterlangen Hebel an der 100 Kilo schweren Kurbelwelle, um den launischen Teufelskerl zum Leben zu erwecken. Dann löst sich sein sorgenvolles Gesicht in ein breites Lachen auf: der Motor stottert, hustet schwarze Rauchfahnen aus den Ofenrohr von Auspuff, speit ein paar kleine Flammen und läuft fast so rund wie am ersten Tag.
Michele Lucente sitzt derweil am riesigen Steuer, sortiert seine Füße auf den winzigen Pedalen und heftet den Blick an den Horizont. Dann tritt er aufs Gas und es ist, als öffneten sich die Tore zur Hölle: Die Welt verschwindet in beißendem Qualm, der Krach lässt die Wände wackeln, der Asphalt beginnt zu kochen und Mefistofele schießt voran wie damals auf der zwölf Kilometer langen Geraden bei Arpajon.
Einen Tacho gibt es nicht, und auf den Drehzahlmesser kann man kaum schauen, so zittert und wackelt das ganze Auto unter der gewaltigen Kraft des Motors. Aber gemessen am Schmerz beim Einschlag der Fliegen, am Zug in den Haaren und an den Grimassen, die einem der Wind ins Gesicht zerrt, haben wir locker 120, 140 Sachen drauf. „Viel schneller haben wir uns noch nicht getraut“, gibt Mechaniker Gianfranco zu, „so verrückt wie damals Mr. Eldridge ist hier keiner.“
Dass der Rekordwagen überhaupt wieder fährt, ist einem glücklichen Zufall zu verdanken. Denn lange Jahre stand er irgendwo in England unter Verschuss und wurde nur zu besonderen Anlässen hervorgeholt. Bei so einer Gelegenheit kam der Rote Riese dem Fiat-Patriarchen Gianni Agnelli unter die Augen. Und angeblich habe der keine Ruhe mehr gegeben, bis das Auto wieder in Turin war. Dort wurde er lange Jahre im Museum ausgestellt, bevor er 2007 zu Signiore Gianfranco in die Werkstatt kam.
Nach fast vier Jahren Arbeit ist jetzt wieder Zunder in der Höllenmaschine und Teufelskerle wie Michele Lucente wagen hier und heute bei einer der ersten Fahrten auf dem Testgelände in Balocco den Ritt auf der Rakete. Schließlich muss Mefistofele fit sein, wenn er im Sommer beim Festival of Speed in Goodwood wieder den berühmten Hügel zum Schloss des Earl of March stürmen soll. Viel mehr als die gute Meile über die Latifundien des Vollgas-Grafen wird der Wagen allerdings kaum schaffen, räumt Gianfranco ein. Denn erstens wird der Motor so heiß, dass er nach drei Runden erst einmal eine Stunde auskühlen muss. Und zweitens hat Mefistofele Durst wie der Teufel: Ein Liter auf 500 Meter, hat Gianfranco ausgerechnet. Bei einem 30 Liter-Tank ist deshalb schon nach 15 Kilometern Schluss. Aber das ist ja kein Langstrecken-Renner, gibt der Mechaniker zu bedenken. Und für den Weltrekord hat es sowieso gereicht.
Text und Fotos: Spot Press Services/Benjamin Bessinger