Jürgen C. Braun: Mein Tagebuch der Tour de France (4)

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Liebe Leserinnen und Leser,

an dem Tag, der den Franzosen so heilig ist wie kein Zweiter im Jahreskalender, nämlich dem 14. Juli, an dem sie dem Sturm auf die Bastille 1789 gedenken, durch das prächtig herausgeputzte Land bei strahlender Sonne zu fahren, und die Freundlichkeit und Aufgeschlossenheit der Menschen zu genießen, ist ein ganz besonderes Privileg. Der „quatorze juillet“, der Nationalfeiertag, eint die Franzosen, ist aber auch Gelegenheit für ein paar Separatisten, auf ihre Forderungen aufmerksam zu machen. So erblickten wir am französischen Nationalfeiertag, als wir aus den Alpen heraus in die „Haute Provence“ Richtung Mittelmeer fuhren, auch nicht wenige Schilder mit der Aufforderung „Savoie libre – freies Savoien“.

Viele, beeindruckende Landschaften der „Grande Nation“ sind uns durch unsere zahlreichen Tour-Besuche bekannt. Gerade im Hochgebirge und dessen Ausläufern, gleich in welcher Richtung, glaubten wir die charaktervollsten Eindrücke schon gesehen zu haben. Doch ausgerechnet am Nationalfeiertag wurde uns von der Tour-Leitung eine Streckenführung verordnet, die uns die ganze herbe, bizarre Landschaft des französischen Südostens auf bisher unbekannte Art und Weise vor Augen führte. Auf der zehnten Tour-Etappe von Chambéry nach Gap bescherten uns die letzten 50 Kilometer Einblicke in eine bizarre, wild-romantische Landschaft, die in ihrer zerklüfteten Einmaligkeit Vergleichbares sucht. Es waren atemberaubende Momente, in denen die Zeit für Sekundenbruchteile still zu stehen scheint und man bei allem Tour-Stress und den Hunderten von Kilometern im Auto bei sengender Hitze jeden Tag einfach nur dankbar ist. Dankbar dafür, dass die Natur uns jeden Tag noch mit ihrer ganzen wunderbaren Vielfalt überraschen kann, ohne dass wir darauf gefasst sind.

Als wir nach der Überquerung des einsamen Col du Noyer in der Nähe von Saint-Laurent-du-Cros die ersten duftenden, lila-farbenen Lavendel-Felder entdeckten, wussten wir, dass wir mitten in der Provence angekommen waren. Sie ist der Teil Frankreichs, der in seiner bizarren Beschaffenheit mit weiten Ebenen und steil aufragenden, scheinbar die Wolken streichelnden, Felsen, so einzigartig ist. Die Fahrer haben keinen Blick dafür. Sie werden in ihrer Konzentration und in ihrem Wagemut bei den steilen, sich windenden Aufstiegen und den rasenden Abschüssen hinunter völlig gefordert.

An einer jener „Rampen“ musste vor wenigen Jahren der spanische Radprofi Joseba Beloki nach einem fürchterlichen Sturz seine Karriere beenden. Er kam nach wer weiß wie vielen Brüchen an seinem geschundenen Körper nie mehr auf die Beine. Wir waren damals mit unserem Begleitfahrzeug nur wenige Minuten kurz hinter der Unfallstelle. Nie werde ich die fürchterlichen Schreie des Spaniers aus dem Once-Team damals vergessen können.

Auf uns wartet nach zwei regionalen Abstechern ab dem Wochenende mit den Pyrenäen das nächste europäische Hochgebirge an der Grenze von Frankreich zu Spanien. Was uns dort bevorsteht, davon beim nächsten Mal mehr.

Text und Fotos: Jürgen C. Braun

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