Jürgen C. Braun: Mein Tagebuch der Tour de France

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Wir sind auf geschichtsträchtigem Boden heute, aber wo ist man das nicht in Frankreich. Doch nirgendwo sonst wie in Lothringen, im Elsass, in den Vogesen sind deutsche und französische Geschicke auf derart dramatische und auch tragische Weise miteinander verbunden. Regionen, die ihre Staatsangehörigkeit mitunter schneller gewechselt haben als eine halbe Generation heran gewachsen ist.

Auch wir haben gewechselt inzwischen, sind mit unserem dreiköpfigen Journalistenteam auf einen 1,6 Liter Chevrolet Cruze umgestiegen. Mit seinen 110 PS zwar kein Ausbund an Explosivität, aber – und das ist ein wichtiges Kriterium für uns – auch als Limousine mit einem überragenden Angebot an Kofferraum ausgestattet.

Dominiert wird die automobile Erscheinungsweise der Tour jedoch auf vier Rädern von den voitures officielles des Hauses Škoda, das mit Roomsters und Octavias in den verschiedensten Ausstattungsformen dabei ist und von den Kawasakis der Fotografen und Kameraleute, die mitunter einen halsbrecherischen Job während der Etappe erledigen müssen. Völlig in die Hand des Fahrers gegeben krallen sie sich irgendwie hinten mit einer Hand an dem Soziussitz fest, dirigieren den Mann am Lenker durch Sprechfunk möglichst nah an den Fahrertross heran, um spektakuläre Aufnahmen zu schießen.

Die Wassermetropole Vittel und das angrenzende Lothringen zeigen sich heute beim Start von ihrer unfreundlichsten Seite. Gerade mal noch 16 Grad; gestern waren es teilweise noch 32 gewesen. Dazu Nieselregen; dunkle, tiefe Wolken. Wir fahren durch kleine, fast schon trostlos zu nennende Dörfer der Lorraine. Dort, wo die Zeit scheinbar stehen geblieben ist. Auf der Straße keine Menschenseele, ab und zu ein streunender Hund und am Ortseingang ein verblichenes Schild: Prudence – Pensez a nos enfants – Denkt an unsere Kinder. Sicherlich eine wohl gemeinte Aufforderung. Nur: Kinder sehen wir in diesem Ort der Trostlosigkeit nirgendwo.

Die Ortsnamen verwiesen auf die wechselhafte Geschichte dieser Region: Guebwiler, Julienrupt, Wintzenheim, Muhlbach sur Munster. Dann kommen die dicken Brocken der Vogesen, mit Namensungetümen, die ähnlich Furcht erregend sind wie ihre Anstiege im dunklen, grauen, Nebel-verhangenen Tann: Col du Platzerwasel, Col de la Schlucht, Col du Firstplan. In der Nähe von Gerardmer entdecken wir in einem kleinen Dörfchen, irgendwo auf einem Hinterhof, eine vor sich hin rostende Dauphine vergangener Zeiten. Das Elsass und Lothringen dokumentieren ihren gemeinsam geschichtsträchtigen Hintergrund mitunter auch durch einen Haufen Blech, der einmal ganze Familien transportiert hat, in dem Kinder zur Schule gefahren wurden, der vielleicht auch einmal als Hochzeitsauto herhalten musste. Auch die Tour de France offenbart am Wegesrand der 3.500 Kilometer nicht nur sportliche Vitalität, sondern einen Hauch morbider Vergänglichkeit.

Text: Jürgen C. Braun

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