(M)ein Leben mit dem Lappen, oder: „100 Jahre Führerschein“

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Zugegeben, er sieht ein wenig mitgenommen aus. Eingefallen, grau, faltig, abgewetzt, speckig. Vielleicht ein erster ernst zu nehmender Hinweis darauf, was uns allen beim Blick in den Spiegel einmal blühen wird. Wenn aus der Schreckensvision nicht ohnehin schon beängstigende Realität geworden ist. An seinen Rändern zeigen sich erste Auflösungserscheinungen. Eselsohren nannten wir das zu einer Zeit, als uns altkluge Pädagogen, die wir an Jahren (und Weisheit?) längst eingeholt haben, weiszumachen versuchten, wir lernten für das Leben und nicht für die Schule.

Und doch: Bei allem erkennbaren Siechtum, den nicht von der Hand zu weisenden Fingerzeigen auf die Vergänglichkeit alles Irdischen: er ist mir ans Herz gewachsen. Mag man ihn auch nur noch mit spitzen Fingerkuppen anfassen können, damit er sich nicht als Sammelsurium von Schnipseln in seine Bestandteile auflöst: er war, ist und bleibt mehr als nur ein Wegbegleiter durch die automobilen Wirren der Jahrzehnte – so, als wär's ein Stück von mir: mein Lappen. Inzwischen 37 Jahre alt, hat er ein bewegtes Leben hinter sich: Oft genug mit zitternden Fingern und bangem Herzen vorgezeigt, tausende Male zusammengeknüllt, in die Hosentasche gesteckt, in letzter Minute aus der Waschmaschine gezogen, mit den verräterischen Spuren einer ganzen Armada randvoller Kaffee-Tassen behaftet. Und ganz unten links ein kleiner Brandfleck vom Geschmack, der einst Abenteuer und Freiheit verhieß. Verloren an den unmöglichsten Stellen und wieder gefunden da, wo kein Mensch es für möglich gehalten hätte.

Jeder Familienangehörige, jeder Freund, Bekannte, Nachbar oder was sonst auch immer: was ein Lappen ist, wissen sie alle. Und (fast) alle haben einen. Auch wenn das eher unscheinbare graue Stück Pappe längst von einem seelenlosen bunten Plastikkärtchen abgelöst worden ist: Er bleibt ein Begriff, der Lappen. Mein Exemplar hat das Licht der Welt erblickt, als der Liter Super verbleit 56 Pfennige kostete, als Ford Capri fahren das höchste der Gefühle war, und als wir – die man uns heute Alt-68er nennt – doch eher mit 2CV, R4 oder einem Brezel-Käfer vorlieb nehmen mussten. Sein Urahn jedoch hatte zu diesem Zeitpunkt schon ein paar Jahrzehnte auf dem dünnen Buckel. Er hatte Generationen von Besitzern eines Opel Laubfrosch, einer Ford Tin Lizzie oder eines Lloyd 300 (Leukoplastbomber) in die Lage versetzt, sich in die mobile Gesellschaft eingliedern zu können: Und jetzt, am kommenden Sonntag, wird er runde Hundert. Der Lappen, oder, wie er korrekt heißt: der Führerschein.

Denn am 3. Mai 1909 trat das Gesetz über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen in Kraft. Kaiser Wilhelm II. verordnete mit Beginn dieses Datums eine rechtsverbindliche Regelung für das ganze Deutsche Reich. Zuvor hatte es eine nahezu unüberschaubare Ausweisflut in den Fürsten- und Herzogtümern des Reiches gegeben. In Paragraf 2 hieß es unmissverständlich: Wer auf öffentlichen Wegen und Plätzen ein Kraftfahrzeug führen will, bedarf der Erlaubnis der zuständigen Behörde. Die Erlaubnis gilt für das ganze Reich; sie ist zu erteilen, wenn der Nachsuchende seine Befähigung durch eine Prüfung dargetan hat und nicht Tatsachen vorliegen, die die Annahme rechtfertigen, dass er zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist. Den Nachweis der Erlaubnis hat der Führer durch eine Bescheinigung (Führerschein) zu erbringen.

Und doch: bei allem gebotenen Respekt vor dem einstigen kaiserlichen Dekret bleibt fest zu halten, dass der Führerschein knapp ein halbes Jahrhundert nach seiner Einführung einen bedauernswerten Makel erlitten hat: den unwiderruflichen Verlust des Nachweises männlicher Kompetenz nämlich. Denn bis am 1. Juli 1958, das Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts in Kraft trat, mussten Ehefrauen ihre Männer um Erlaubnis fragen, ob sie den Führerschein machen durften. Diese kaiserliche Autorität hat er heute nicht mehr. Vielleicht – aber auch dies ist nur eine durch nichts zu beweisende Hypothese – sieht er ja auch deswegen so mitgenommen aus, mein Lappen!

Text und Fotos: Jürgen C. Braun

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