Die Tour de France 2008: Jürgen C. Brauns Tagebuch (6)

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Oft sind es nur die großen Rekorde, die Bestleistungen, die Alleinstellungsmerkmale, die im großen Conclusio von der Tour de France übrig bleiben. Wer wann mit wieviel Vorsprung bei Minusgraden über den Tourmalet rüber ist. Wer nach mehr als 200 Kilometer Alleinfahrt auf den letzten 50 Metern noch geschluckt wurde. Wer mit angeknackstem Schlüsselbein und Schürfwunden von oben bis unten die Etappe noch zu Ende gefahren ist. Dabei lebt diese öffentliche Zurschaustellung von Stress und Strapazen doch auch von den kleinen, scheinbar unbedeutenden Augenblicken. Vom immerwährenden unbarmherzigen Drehen des Sekundenzeigers, das dem einen gar nichts, dem anderen alles bedeutet. Für den unmessbaren Bruchteil einer Ewigkeit zumindest.

Eine solche Begebenheit habe ich am Dienstag kurz unter dem Gipfel von Europas höchstem befahrbaren Pass, dem Restefond de la Bonnette, (2802 Meter) selbst mit erlebt. Wir hatten einen Fanclub von Gerolsteiner gesehen, unseren Ford Mondeo dort irgendwo noch im Geröll am Seitenstreifen geparkt. Mittlerweile hat unser blauer Zweiliter-Diesel auch schon die ersten Kampfspuren im Karosserie-Bereich auf zu weisen. Im Fanclub dabei war auch Erich Krauss, Vater von Gerolsteiner-Profi Sven Krauss, der die Tour fährt. Mit fünf Personen, darunter auch Erichs Tochter (folglich auch Svens Schwester) Sandra, sind sie im Wohnmobil in den Alpen unterwegs. Vater Krauss hat nur Augen für den Berg unterhalb von ihm, für die nächste Kurve, steht dort mit einer Flasche geöffneten Flasche Wasser.

Langes Warten. Dann zwei Mann von der französischen Gendarmerie auf ihren blauen BMW-Krädern, dahinter eine große Gruppe von vielleicht 30 bis 40 Fahrern. Da ist mein Junge drin, ruft Erich Krauss, schwenkt die Flasche, schreit lauthals. Sven sieht den Vater, kommt mit der Gruppe heran, steigt für einen Moment ab, nimmt die Flasche mit zitternder Hand, hält sich am Vater fest. Die Schwester wischt ihm das schweißnasse Gesicht ab. Mir isch' so elend sagt Sven, der Schwabe. Der Vater umarmt ihn für drei Sekunden fest, die Schwester drückt ihm noch einen Kuss auf die Wange, dann schiebt der Vater ihn mit Wucht den schweren Berg hinauf (siehe dazu neben stehendes Bild). Und plötzlich ist Sven wieder weg. Wie eine Fata Morgana.

Der isch' hart, der isch' von mir, sagt der Vater mit Stolz und wischt sich über die leicht nassen Augen. Eine kleine, unscheinbare Begegnung nur. Für niemandem von Interesse, nur für die drei Personen, die sich in einem Wimpernschlag der Ewigkeit so nahe waren. Vater, Bruder und Schwester im Kampf gegen die Übermacht der Natur. Auch das ist die Tour. Nicht nur das, was irgendwann einmal in den Rekordbüchern oder den Annalen der Geschichte stehen wird.

Text und Bild: Jürgen C. Braun

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