Am 6. Mai fällt in Brescia einmal mehr die Startflagge zur Mille Miglia storico – für viele die faszinierendste Oldtimer-Veranstaltung der Welt. Doch während heute bereits zum 22. Mal auf Gleichmäßigkeit gefahren wird, war die ursprüngliche Mille Miglia eine irrwitzige Jagd über Landstraßen und durch die Städte und Dörfer Italiens: ein Rennen ohne Pausen über gut 1.600 Kilometer, also 1.000 Meilen – daher der Name Mille Miglia. Zu jener Zeit nahmen nur die schnellsten Autos teil, weshalb das furiose Abschneiden eines unscheinbaren VW Käfer vor 50 Jahren geradezu eine Sensation war.
Die Mille Miglia ging als eines der härtesten und längsten Straßenrennen der Welt in die Automobilgeschichte ein. Auf der Strecke Brescia-Rom-Brescia standen den rund 400 Teilnehmern abenteuerliche Meilen durch ein Meer voller Emotionen und Erlebnisse bevor. Die Vollgasfahrten über schmale, sich durch unübersichtliche Hügellandschaften windende Landstraßen gerieten selbst für hartgesottenste Rennfahrer zur Mutprobe. Gegenverkehr war auf der in ihrer Länge nicht absperrbaren Strecke nicht auszuschließen, enge Ortsdurchfahrten bargen ein hohes Risiko: Ein motorsportbegeistertes italienisches Publikum wagte sich jubelnd und anfeuernd bis auf wenige Zentimeter an die mit hohen Durchschnittsgeschwindigkeiten durch halb Italien rasenden Fahrzeuge.
Einer, der sich unbedingt mit den besten Fahrern der damaligen Zeit messen wollte, war der Schorndorfer Volkswagen-Händler Paul Ernst Strähle. Beherzt meldete er seinen 48er Brezel-Käfer für die Klasse der Spezialtourenwagen bis 1.300 cm³ und bekam prompt die Zusage für den Start bei der Mille Miglia Ausgabe 1954. Ich wollte einmal schauen, was ich mit dem Volkswagen erreichen konnte, erinnert sich Strähle mit Blick auf die rund 70 Fahrzeuge umfassende Armada von Fiat 1100, dem damaligen Platzhirsch in dieser Klasse. Strähle und sein Copilot Viktor Spingler mussten zuvor noch die Bedenken des damaligen VW-Importeurs aus dem Weg räumen. Der dachte bei dem Projekt an Touristen, die mit ihren Käfern den italienischen Alltagsverkehr behinderten und war sich sicher, dass mit dem Wagen aus Wolfsburg kein Blumentopf zu gewinnen sei.
Die schwäbischen Tüftler ließen sich nicht beirren, modifizierten Motor und Getriebe, änderten die Übersetzung des ehemals langen vierten Gangs im unsynchronisierten Standard-Getriebe und konnten bei Testfahrten die italienische Konkurrenz hinter sich lassen. Das hat sich im Nachhinein als Fehler erwiesen, erinnert sich Strähle, dem daraufhin überraschend die für den Start notwendige Abnahme von der Rennleitung verweigert wurde. Der Diskussion mit dem Veranstalter schloss sich eine neue Klasseneinteilung in die deutlich anspruchsvollere Kategorie der Sportwagen bis 1.500 cm³ Hubraum an. Hier musste sich der Käfer nun mit reinrassigen Rennflundern vom Schlage eines Porsche 550 Spyder oder den mindestens ebenso favorisierten italienischen OSCA messen.
Der Startnummer 347 entsprechend rollte der resedagrüne Volkswagen morgens um 3.47 Uhr von der Startrampe in Brescia. An Stelle der heute obligatorischen Helme trugen Strähle und Spingler grüne Velourshüte, weil der Spingler Jäger war, erklärt Strähle den Scherz. Das war indes der einzige Anlass zum Lachen, den die beiden der Konkurrenz gaben. Der Käfer lief und lief und lief – und das im Renntempo. Mit 60 Pferdestärken im Rücken erzielte der 650 Kilogramm leichte Käfer beachtliche Beschleunigungswerte und erreichte eine Höchstgeschwindigkeit von 160 km/h. Lediglich Regen und dichter Nebel vermochten die deutschen Teilnehmer ein wenig zu bremsen, doch nach nur 14 Stunden und 34 Minuten war die Sensation perfekt: Mit einem unglaublichen Schnitt von 110 km/h erreichen die beiden Schwaben das Ziel als 43. in der Gesamtwertung und kommen in der Sportwagenklasse bis eineinhalb Liter Hubraum auf einen überaus beachtlichen dritten Platz.
Der Käfer hatte gezeigt, was in ihm steckte. Und das blieb nicht unbemerkt: Direkt nach dem Zieleinlauf wollte mir ein italienischer Millionär den Wagen für viel Geld abkaufen, er blieb erfolglos, erinnert sich Paul Ernst Strähle.
Raum für Erinnerungen bietet die in diesem Jahr vom 6. bis 9. Mai ausgetragene Mille Miglia storico in vielfacher Form. Seit Jahren gilt sie als Mekka für Sportwagen- und Oldtimer-Liebhaber, die das rund 360 Fahrzeuge umfassende Feld entlang der Route von Brescia über Ferrara, San Marino, Rom, Siena und Bologna nach Brescia bejubeln. In den zumeist sehr kostbaren Pretiosen – teilnahmeberechtigt sind nur Fahrzeuge, die zwischen 1927 und 1957 bei der ursprünglichen Mille Miglia starteten – sitzen Fahrer aus aller Welt, die die Straßen Italiens für das erste Maiwochenende in das größte rollende Sportwagenmuseum der Welt verwandeln.